Bonusszene Alex & Noah
Vor vielen Jahren
Noah
Ich renne die Straße entlang. Carl, der Arsch, wollte uns eigentlich zurück mitnehmen, aber dann hat er Jakob und mich aus dem Wagen geworfen, weil er sich lieber mit Megan treffen wollte. Jakob ist dann zu seiner besten Freundin Sally gegangen, aber ich … na ja, ich habe mich dann allein auf den Weg nach Hause gemacht.
Aber ich habe verdammt falsch kalkuliert, weil dieser beschissene Weg einfach für immer geht.
Als endlich unser Haus auftaucht, werde ich langsamer. Eine tiefe Traurigkeit legt sich über mich. Das war einmal ein Haus der Freude. Jetzt ist es nur noch eins der Trauer. Seit Mom vor wenigen Monaten gestorben ist, ist alles auseinandergebrochen. Als wäre sie der Kleber gewesen, der uns zusammengehalten hat.
Oder nicht alles. Schließlich habe ich meine Brüder und meine Schwester. Das traumatische Erlebnis hat uns noch enger zusammengeschweißt, als wir sowieso schon waren. Sie sind meine besten Freunde.
Da ich nicht in diese schwarze Wolke hineinmarschieren will, die Dad heißt, gehe ich von hinten ans Haus heran, will mich auf die Veranda setzen, um auf meine Brüder zu warten. Als ich die wenigen Stufen nach oben gehe, sehe ich Alex dort sitzen. Sie hat den Kopf in einem Buch – ich wette, es handelt vom Meer. Dafür, dass Whynot soweit vom Wasser weg ist, wie es fast geht, scheint sie fasziniert von den Ozeanen.
»Hey«, sage ich, und sie schreckt auf.
»Oh, hi, Noah.«
Ich setze mich neben sie auf die Bank. »Was liest du?«
»Oh, nur so einen Roman.«
»Über das Meer?«
Sie zeigt mir das Cover, und natürlich kann man die Wellen geradezu plätschern hören. »Ich bin wohl ziemlich vorhersehbar.«
Ich zucke mit den Schultern. »Du weißt eben, was du magst.«
Sie nickt langsam. »Weißt du, wo Rae ist?«
»Ich hatte gedacht, dass sie schon zu Hause ist.« Ich runzele die Stirn. Die Sommermonate sind schulfrei, weswegen sie und Alex nicht im Internat in Anchorage sind. »Und Kay?«
»Er ist auch nicht da. Nur euer Dad.«
»Auf der Couch?«, frage ich leise.
Sie nickt nur.
Seit Moms Tod findet man Dad hauptsächlich dort. Er geht zur Arbeit, das ja, aber sobald er nach Hause kommt, legt er sich hin, und ist dann für nichts mehr zu gebrauchen.
»Mist.«
Ich stehe auf, ziehe mein Handy aus der Hosentasche, versuche Rae zu erreichen. Meine Schwester hat die Mutterrolle für Kay übernommen, weil der Kleine wahrscheinlich die Welt nicht mehr versteht.
»Hey, Noah«, sagt sie.
»Wo bist du?«
»Bei Maggie Moore. Kay hat so einen Ausschlag.«
»Oh, okay. Soll ich kommen?«
»Nein, nein, alles gut. Ich komm gleich zurück.«
»Okay. Dann bis gleich. Alex ist auch hier.«
»Yay!«
Ich lege auf, sehe zu Alex, die mich fragend ansieht. »Alles okay?«
»Sie ist mit Kay bei Maggie Moore, weil er einen Ausschlag hat.«
Sie kräuselt die Nase. »Oh, ich hätte doch mitfahren können.«
Ich weiß, dass Alex Rae eine sehr große Hilfe in der letzten Zeit war. Nicht nur emotional, auch im Haus. Ich will nicht sagen, dass das richtig ist, aber meine Brüder und ich helfen eher wenig. Schließlich hat Mom das bisher alles gemacht.
Wir können uns wirklich glücklich schätzen, dass wir Rae haben.
»Was macht der Job?«, fragt Alex.
Ich seufze, weil ich wirklich nicht gern in der Werkstatt von Doug Moore arbeite. Er ist einfach ein Wichser. »Na ja, läuft. Irgendwie. Aber ich wünschte, Whynot hätte mehr Optionen, was Jobs angeht.«
»O ja, verstehe ich. Im Grunde sind es Werkstatt, Firehouse oder Supermarkt.«
»Die Lodge nicht zu vergessen. Aber für den alten Campbell zu arbeiten, ist wahrscheinlich auch nicht immer leicht.« Da wir außerhalb der Stadt wohnen, wurden die Brookners nie in die Fehde zwischen Moore und Campbells reingezogen. So lebt es sich ganz beschaulich, wenn ich ehrlich bin. »Und was sind deine Pläne? In einem Jahr machst du deinen Abschluss.«
»Ich weiß noch nicht.«
»Hast du dich entschieden, für welche Colleges du dich bewirbst?«
Sie zieht eine Grimasse. »Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt gehen will.«
»Wieso nicht?«
»Weil meine Eltern es so unbedingt wollen.«
»Ich weiß, die Dinge mit deinen Eltern sind nicht immer so einfach. Aber das ist ein doofer Grund. Nur, um ihnen eins auszuwischen, kannst du doch nicht dein Leben versauen.«
»Du gehst auch nicht aufs College.«
Ich nicke langsam, weil mir das auch bewusst ist. »Ich weiß. Aber ich wünschte … na ja, es ist eben jetzt so.«
Sie sieht mich aus ihren sanften brauen Augen an, und ich schlucke. Das ist immerhin Alex. Die beste Freundin meiner Schwester.
Und gleichzeitig das Mädchen, an das ich ununterbrochen denke.
»Noah«, flüstert sie leise.
Das ist alles, was ich brauche, um mich nach vorne zu beugen, meine Lippen auf ihre zu drücken.
Ihre Lippen sind voll und weich und es fühlt sich so wunderbar an, sie zu küssen. Ich hebe eine Hand, streiche ihr über die Wange, lasse meine Finger durch ihre Haare gleiten, bevor ich sie an mich ziehe.
Mit einem Seufzen öffnet sie ihren Mund, und einen langen, unglaublich grandiosen Augenblick spielen unsere Zungen miteinander. Ich will nicht, dass dieser Moment jemals endet … Niemals.
Aber dann höre ich Autotüren zuschlagen, und schnell beende ich diesen Kuss. Diesen wahnsinnigen Kuss, den ich wahrscheinlich nie im Leben vergessen werde. Niemals.
Alex’ Blick ist ein wenig glasig, ihre Wangen werden rot und ihre Lippen … o ja, sie sehen aus, als wären sie geküsst worden. So richtig.
Und ich kann mir da ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Ich war das. Ich habe dafür gesorgt, dass sie so aussehen.
»Hey«, sagt Rae, als sie die Stufen hinaufkommt.
Ich werfe noch einen Blick auf Alex, bevor ich frage: »Alles okay mit Kay?«
»Ja, ist wohl eine allergische Reaktion. Maggie schätzt, vielleicht ein neues Waschmittel.« Sie zuckt mit den Schultern, sieht ein wenig schuldbewusst aus. »Ich wusste nicht, welches Mom immer genommen hat, deswegen hab ich irgendeins gekauft.« Sie sieht zu unserem kleinen Bruder, der durchs Gras rennt.
»Es ist nicht deine Schuld.«
Sie seufzt. »Ich weiß, aber trotzdem. Ich kann es nicht ertragen, wenn es ihm schlecht geht.«
Sie setzt sich auf einen Stuhl, sieht Alex an. »Wieso ist dein Gesicht so rot? Bist du gerannt?«
»Ähm, nein …«, Alex schaut überall hin, nur nicht zu mir. »Aber es kann sein, dass mein Buch gerade … hm, ein bisschen … du weißt schon.«
Rae grinst sie an. »Ah, verstehe. Sie treiben es.«
»So ungefähr«, antwortet Alex und wird noch röter.
Und ich kann jetzt nur noch an eines denken …