Kiss me in Guerneville

Content Note: Dieses Buch behandelt sexuelle und physische Gewalt.

Kapitel 1

Brinley

Ich tauche den Kochlöffel in den Rindereintopf, rühre einmal um, bevor ich ihn zum Mund führe, um zu probieren. Hm, ein bisschen mehr Salz und … irgendwas fehlt da noch. Vielleicht … Ich schaue über die Gewürze, die im offenen Schrank stehen. O ja. Ich greife nach einer kleinen Dose. Eine Prise Zimt.

Ich schütte etwas von dem braunen Pulver hinzu, rühre noch einmal um. Perfekt. Das war genau das, was gefehlt hat, um den Geschmack abzurunden.

Die Seitentür wird geöffnet, ohne anzuklopfen. Ich lächele, weil ich weiß, dass es nur einer sein kann. Isaac. Mein bester Freund geht in meinem Haus ein und aus, als würde er ebenfalls hier wohnen. Ich mag das. Mag, dass er sich hier so wohlfühlt, weil ich dann denke, dass es was bedeutet.

Ich meine, das muss es doch, oder? Er wird bestimmt nach all den Jahren endlich auch was für mich fühlen. Sonst würde er sich anders verhalten. Ganz bestimmt sogar.

»Hey«, sagt er, bevor er zu mir tritt, mir einen Kuss auf die Wange gibt.

Ich will gegen ihn sinken.

Will seine Arme um mich.

Will mich an seine Brust kuscheln und von ihm gehalten werden.

Will seine Wärme spüren, die langsam in meine Haut sickert.

Will seine Lippen auf meinen, nicht nur auf meiner Wange.

Aber ich bleibe stehen, lächele nur leicht, tue nichts von alldem, was ich eigentlich will, sondern begrüße ihn wie seine Freundin. Also, seine platonische Freundin, die ich leider bin.

Seit wir uns kennen, was schon beinahe eine Ewigkeit ist, bin ich in ihn verliebt. In Isaac. Aber er hat nie gezeigt, dass er auch in mich verliebt ist. Es kann doch aber sein, dass er schüchtern ist. Oder? Vielleicht traut er sich nicht, seine Gefühle zu offenbaren, vielleicht muss ich den ersten Schritt tun.

Aber da ist diese Angst … Diese Angst, dass ich auch seine Freundschaft verlieren würde, wenn es schiefgeht. Und das könnte ich nicht ertragen. Niemals. Er ist doch mein bester Freund. Wenigstens das, auch wenn ich mir mehr wünschen würde …

»Rinderschmortopf?«, fragt er und schnuppert. Seine Hände liegen auf meiner Taille. Genau an der Stelle, die nichts anderes als Freundschaft vermuten lässt. Ein wenig höher und man könnte denken, dass er meinen Brüsten nahekommen will, ein wenig tiefer und er käme in Reichweite meines Hinterns. Aber da? Rein platonisch. Nicht mal ich kann mir da mehr einreden, und ich habe mir in unserer gemeinsamen Zeit so einigen romantischen Schmu eingebildet.

»Ich weiß doch, dass das dein Lieblingsessen ist«, sage ich und bemühe mich um eine normale Stimme, wobei ich eigentlich schnurren will, weil er mir so nah ist. Oder hauchen? Keuchen? Stöhnen? Ich bin wohl ein hoffnungsloser Fall, weil ich mir alles vorstellen könnte.

»Aber du wusstest nicht, dass ich heute vorbeikomme«, entgegnet er, lässt mich los, bevor er sich ein Glas aus dem Schrank nimmt, zum Kühlschrank geht und die Flasche Dr. Pepper rausnimmt, die ich immer für ihn dahabe.

»Es ist Dienstag«, antworte ich, als wäre das irgendeine Erklärung. Wobei es das ist. Denn dienstags hat er nichts anderes zu tun, weswegen er meistens vorbeikommt.

Montags, mittwochs und freitags ist er mit seinem Bruder Rhys laufen. Donnerstags ist er bei seiner Granny, die in Sonoma in einer Seniorenresidenz lebt, freitags nach dem Laufen geht er mit Kumpels in den Pub – den einzigen Pub, den es in Guerneville gibt – und an den Wochenenden verbringen wir oft Zeit zusammen. Also dienstags. Immer wieder dienstags zieht es ihn zu mir.

»So vorhersehbar bin ich?«, fragt er lachend, während er sich das Glas füllt. Er schaut zu meinem, das auf der Arbeitsfläche steht, und gießt mir noch Wasser nach.

Ich grinse ihn an. »Verlässlich würde ich es nennen.«

»Hm, das hört sich ein klein wenig besser an.«

»Aber nur ein klein wenig?«

»Na ja, jeder träumt doch davon, total mysteriös zu sein?«

»Ach, wollen das alle?«

»Okay, vielleicht nur Männer.« Er hüpft auf die Arbeitsplatte, lässt die Beine baumeln, während er einen Schluck nimmt. »Sind das nicht die Bücher, die du am meisten verkaufst? Der mysteriöse Fremde, der den Heldinnen das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt?«

»Hm, kann schon sein.«

Eigentlich liebe ich nichts mehr, als über Bücher zu reden, Bücher jeden Genres – wobei ich Thriller bevorzuge –, aber nicht mit ihm. Er hat kein Interesse am Lesen, hält es generell für Zeitverschwendung. Wenn man den Gedanken weiterspinnt, hält er also mein Leben für Zeitverschwendung, weswegen ich darüber lieber nicht nachdenke. Mein Buchladen ist mein ganzer Stolz, mein Baby.

»Willst du Freitag mit in den Pub kommen? Allen hat Geburtstag.«

Ich schaue zu ihm, ein wenig überrascht. Bisher waren ihm seine Pubnights mit den Jungs heilig. Früher habe ich mehrfach gefragt, ob ich mitgehen darf, aber das war ihm nicht so recht, weswegen ich aufgegeben habe. »Wirklich?«

»Klar. Je mehr, desto lustiger.«

»Oh, ja, klar, okay, gerne!« Überschlag dich nur nicht vor Begeisterung, Brinley, sage ich mir.

»Cool, wir haben ein Gemeinschaftsgeschenk. Vierzig Dollar für jeden.« Er sieht mich auffordernd an.

Ein Hauch von Bitterkeit legt sich über die Einladung, aber ich verdränge es. Isaac will, dass ich dabei bin. Es ist kein … Kalkül. Ganz bestimmt nicht.

»Geb ich dir gleich, okay?«

»Klar, keine Eile. Ich weiß ja, wo du wohnst.« Er lacht auf.

»Kannst du schon mal den Tisch decken?«, wechsele ich das Thema. Vielleicht müssen wir einfach wieder auf neutralen Boden kommen, damit die Verlegenheit verschwindet, die sich in mir ausbreitet. Ich atme tief durch. Er ist mein bester Freund, ich sollte wirklich aufhören, ihn die ganze Zeit anzuschmachten, sonst wird es peinlich zwischen uns.

Isaac springt hinunter, bevor er tiefe Teller und Besteck aus den Schränken nimmt. Ich mag, dass er sich auskennt, nicht fragen muss, wo alles ist, sondern mit einem Griff fündig wird.

Aber ich sollte wirklich nicht die ganze Zeit an solche Dinge denken, weil es die Luft um uns auflädt. Auflädt mit so einer Spannung, die mich wahnsinnig werden lässt, als wäre ich konstant unter Strom, könnte nie relaxen.

»Wie war dein Tag?« Ich schaue ihn neugierig an.

Ein Stöhnen ist vom Esstisch zu vernehmen. »Puh, heute war wieder so ein Tag … Ich weiß ehrlich nicht, wie mein Chef denken kann, dass es okay ist, seine Mitarbeiter so auszubeuten.«

»Oje, was ist denn passiert?«, frage ich besorgt nach. Ich weiß, dass Isaac seinen Job nicht leiden kann, weiß auch, dass er sich ein anderes Leben wünscht und das Gefühl hat, hier festzusitzen. Es macht mich immer ganz traurig, wie unzufrieden er mit seiner Situation ist. Denn ich … ich bin es nicht. Ich habe meinen Traumjob, ich lebe an dem Ort, den ich über alles liebe, habe meine Familie bei mir … Das Einzige, was fehlt, ist Liebe. Und da habe ich noch Hoffnung, dass Isaac irgendwann erkennt …

»Er denkt doch tatsächlich, dass er mich für Laufarbeiten abkommandieren kann. Heute wollte er, dass ich Sachen zur Post bringe. Als hätten wir dafür keine Sekretärin!«

»Aber …«

Er unterbricht mich: »Er weiß mich einfach nicht zu schätzen. Ich würd am liebsten einfach kündigen, dann soll er mal sehen, wie er den Laden am Laufen hält. Dann würde er sich aber schnell umgucken, denn ich mach wirklich alles. Alles.«

»Ich …«

»Und dann immer seine Art! Als wäre er was Besseres. Nur weil er nicht aus dem Ort kommt, sondern von außerhalb. Aus San Francisco. Das ist doch abartig. Wie kann man sich denn für so was Besseres halten? Nein, versteh ich nicht. Außerdem hat er einen Stock im Arsch. Aber echt.«

Ich habe Mark mal kennengelernt und fand ihn eigentlich ganz sympathisch, weswegen ich nicht weiß, wie er zu dieser Einschätzung kommt. Aber es ist natürlich auch was anderes, ob man jemanden in einer professionellen oder in einer privaten Situation kennenlernt. »Das tut mir echt leid.«

Er seufzt. »Manchmal würde ich gern alles stehen und liegen lassen und einfach losfahren. Mal sehen, wohin mich der Weg führt.«

Immer wieder spricht er von seinem Roadtrip, den er machen will. Bisher hat er die Idee nicht in die Tat umgesetzt, was mich freut, denn ich würde ihn ganz schön vermissen.

Aber trotzdem sage ich: »Wenn du das machen willst, dann tu es«, weil ich glaube, dass das von mir als bester Freundin erwartet wird. »Ich mein, ich werd dich vermissen, aber ich will, dass du glücklich bist.«

Isaac lächelt mich an. »Ich weiß, aber … Ach, keine Ahnung. Der Arsch zahlt einfach auch so schlecht, dass ich nichts zur Seite legen kann. Alles geht für meinen Lebensunterhalt drauf. Und du weißt ja, wie Mom ist.« Er lacht auf. »Ich muss mir eine reiche Frau suchen, die mich aushalten kann.«

»Plan B?«

»Na ja, eigentlich müsste es Plan A sein, weil ich wohl kaum eine andere Chance habe.«

»Vielleicht musst du dir einen anderen Job suchen …«, werfe ich ein.

»In dieser Wirtschaftslage? Und was sollte ich auch machen? Vor allem, was gibt es hier? Soll ich bei deinem Bruder auf dem Weinberg arbeiten?« Er sagt das nicht verächtlich oder zumindest glaube ich nicht, dass er es verächtlich meint, aber bei meiner Familie bin ich dünnhäutig. Ich liebe sie über alles, auch wenn wir erst seit ein paar Monaten, im Grunde seit Leah in das Leben meines Bruders Troy getreten ist, wieder so recht zueinandergefunden haben. Vorher war es so, dass ich viel Kontakt mit einigen – zum Beispiel mit meinem Bruder Holden – gehabt habe, und mit anderen eher wenig. Troy habe ich am wenigsten gesehen, mit all seiner Eremiten-Art.

Aber dann kam Leah …

Und plötzlich wurde aus meinem grummeligen, älteren Bruder ein echter Familienmensch. Ich werde ihr für immer dankbar sein, dass sie uns wieder zusammengebracht hat, und ich werde niemals wieder zulassen, dass wir auseinanderdriften. Dafür liebe ich es viel zu sehr, dass wir endlich wieder eine richtige Familie sind. Also eine, die sich auch mal sieht und nicht nur zu Weihnachten.

»Was ist falsch daran, auf einem Weinberg zu arbeiten?«, frage ich vielleicht ein klein wenig defensiv.

»Nichts, wenn man es machen will. Ich will es nur nicht.« Er sieht mich mit gerunzelter Stirn an. »Oder kannst du dir mich in Gummistiefeln und Latzhose vorstellen?«

Ich lächele. »Okay, das kann ich tatsächlich nicht, wobei ich aber auch Troy noch nie in dem Outfit gesehen habe, weswegen ich denke, dass es nicht unbedingt erforderlich ist.«

Er grinst. »Gummistiefel schon.«

»Wahrscheinlich ja.«

Mit den Schultern zuckend geht er erneut an den Kühlschrank. »Dein Bruder ist glücklich, wieso auch immer, denn schließlich hatte er diesen tollen Job in New York. Also ist nichts daran verkehrt, aber für mich wäre es das.« Er sieht mich entwaffnend an, sodass ich ihm gar nicht böse sein könnte, selbst wenn ich es wollte.

»Was würdest du denn machen wollen, wenn es keinerlei Hindernisse gäbe?«, frage ich ihn.

»Meinst du beruflich?«

»Ja.«

»Dann wünschte ich mir, dass ich mir damals nicht das Knie verletzt hätte.« Das hatte ich erwartet. In seiner Erinnerung hat er durch seine Knieverletzung kein Sportstipendium bekommen, aber eigentlich war er gar nicht so gut, dass es überhaupt in Betracht gekommen wäre. Aber er hat beschlossen, all seine Probleme auf diesen Moment zurückzuführen.

»Und sonst? Ich mein, die Vergangenheit können wir nicht mehr ändern.«

»Und sonst? Hm. Irgendeinen Job, bei dem man viel Geld verdient.« Er grinst mich an. »Und dann würde ich reisen.«

»Das könntest du auch so«, gebe ich zu bedenken.

»Dafür brauch ich Geld.«

Ich runzele die Stirn, als mir etwas einfällt. »Hey, hattest du nicht gesagt, dass du was gespart hättest? Ich mein, vor ein paar Wochen hattest du das erwähnt.«

Er reibt sich das Gesicht, sieht ein wenig verlegen aus. »Hatte ich auch. Nicht viel, aber doch so viel, dass ich mich einige Zeit über Wasser halten könnte.«

»Und was ist passiert?«

»Ich war mit Rhys auf der Rennbahn.«

Bei dem Namen stellen sich mir alle Nackenhaare auf. Auch wenn wir uns schon so ewig kennen, bin ich mit Isaacs Bruder nie so richtig warm geworden. Ganz im Gegenteil. Wir können uns nicht ausstehen, weswegen wir es vermeiden, jemals aufeinanderzutreffen. »Ich ahne Schlimmes.«

»Rhys hat gesagt, das wäre eine sichere Sache …«

»Und du hast ihm geglaubt?« Ich bemühe mich, die Verachtung aus meiner Stimme zu lassen, aber so ganz gelingt mir das nicht.

»Er hatte den Tipp von jemandem … Woher sollte ich wissen, dass diese Person nicht vertrauenswürdig ist?«

»Dein Bruder ist nicht vertrauenswürdig«, sage ich leise.

»Hey, lass das. Meine Beziehung zu meinem Bruder geht dich nichts an.« Seine Augen funkeln ein wenig, aber nicht auf gute Weise.

»Sorry«, sage ich schnell, weil er recht hat. Wenn er nichts Schlechtes über meine Familie sagen darf, dann ich auch nicht über seine. »Ich misch mich da nicht ein.«

»Es geht dich einfach nichts an. Ich weiß, du kannst Rhys nicht leiden, was übrigens auf Gegenseitigkeit beruht.« Keine Ahnung, wieso er das so betonen muss, schließlich weiß ich das. »Aber er ist mein Bruder. Damit musst du klarkommen.«

»Du hast recht«, sage ich ein wenig kleinlaut. Ich wollte ganz sicher nicht, dass wir streiten. Schon gar nicht wegen Rhys.

»Lass es einfach, okay?«

»Okay. Sorry.«

Er lächelt. »Ich hab voll Hunger.« Und damit sind wir wieder auf sicherem Terrain.

»Ist auch gleich fertig.« Ich probiere noch einmal, befinde es für gut, und stelle den Topf auf den Tisch. Ich fülle erst seinen Teller, dann meinen, hole noch das Brot von Nana, das ich gerade aufgeschnitten habe, bevor ich mich ebenfalls setze.

»Guten Appetit«, sage ich.

Er hat schon angefangen und schluckt schnell. »Dir auch. Es schmeckt echt gut.«

Meine Wangen werden ein wenig warm. Komplimente anzunehmen ist nicht immer so einfach, aber sie freuen mich jedes Mal. »Danke.«

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