She flies Bonusszene (Mai 2023)

»Mom!«, höre ich Micahs Stimme durch den Flur dringen, der zu unserem Büroflügel – wie das klingt! – führt.

»Was denn, mein Schatz?«, rufe ich zurück, während ich versuche, den Gedanken nicht zu verlieren, den ich gerade eben für mein Paper hatte.

Aber es ist hoffnungslos. Ich seufze. Manchmal gibt es solche Tage, in denen ich mich sowieso schlecht konzentrieren kann, und wenn mich dann noch jemand rausbringt …

Micahs Schritte ertönen hinter mir, und ich drehe mich in meinem Stuhl um, lächele ihn an. Wann ist er eigentlich so groß geworden? Er war doch vor gar nicht allzu langer Zeit noch ein Baby. Eines, das nicht viel länger als mein Unterarm gewesen ist. Aber da kommt ein großer Junge auf mich zu. Zwölf. Unglaublich, wie die Zeit vergeht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich damit einverstanden bin.

»Mom, Willa weint.«

»Oje, wieso denn?«, frage ich und stehe auf.

»Will sie nicht sagen.«

Ich streiche ihm über den Kopf, drücke einen Kuss auf seine Haare, als ich an ihm vorbeigehe, um mich um meine Jüngste zu kümmern. »Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast.«

»Sie ist in ihrem Zimmer.«

Ich lächele ihn an, gehe durch den Flur ins Haus, dann die Treppe nach oben. Willas Zimmer ist neben meinem. Ich klopfe an.

»Geh weg«, schluchzt sie.

»Willa? Hier ist Mom.« Ich würde gern sofort eintreten, sie in die Arme nehmen, aber ich will ihr nicht das Gefühl geben, dass ihre Wünsche nicht zählen. Auch wenn es mir unglaublich schwerfällt, gerade dann, wenn sie traurig ist.

»Mom?« Ihre Stimme ist zittrig.

Das nehme ich als Einladung, stoße die Tür auf, und sehe sie auf ihrem Bett liegen. Ich setze mich neben sie, lege meine Hand auf ihren Rücken, streichele sie sanft. »Was ist denn passiert, Liebling?«

Sie dreht sich auf die Seite, sieht mich mit roten Augen an. »Das will ich nicht sagen.«

»Okay, aber es hat dich traurig gemacht?« Sie nickt. »Und kann ich irgendwas tun, um es wieder besser zu machen?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Weiß ich nicht.«

»Vielleicht mit einer Umarmung?«

Und dann stürzt sie sich in meine Arme, schlingt ihre um meinen Nacken.

»Ach, mein Mädchen«, murmele ich, drücke meine Lippen gegen ihren Kopf. »Weißt du, was ich gelernt hab?« Sie verneint. »Dass es hilft, wenn man drüber spricht. Dann verblassen die Schrecken, die man erlebt hat.«

»Aber … aber ich will nicht …, dass es … dass es dich auch … traurig macht.«

»Wenn es dir hilft, dann nehm ich gern ein bisschen Traurigkeit auf mich.«

»Wirklich?«

»Natürlich! Dafür ist eine Familie doch da. Dass man nicht allein seine Kämpfe bestehen muss.«

»Und wenn du dann auch weinst?«

»Dann tun wir das gemeinsam.«

Und dann erzählt sie mir schluchzend, was passiert ist.

Abends tigere ich barfuß in Wills Arbeitszimmer auf und ab, immer noch kochend vor Wut, weil irgendwelche Arschlochkinder Willa zum Weinen gebracht hat.

»Oh, ich würde diese kleinen Satansbraten am liebsten umbringen!«, rufe ich aus, während mein Mann mich amüsiert ansieht.

Dann seufze ich, lasse mich auf seinen Schoß sinken. »Aber weißt du, was das Schlimmste ist?«

»Das Gefühl, dass wir schuld sind?«, fragt er leise.

Ich zucke mit den Schultern. »Ja«, sage ich dann schwach. »Ich liebe uns. Ich liebe, was wir haben. Unsere Familie. Ich will das niemals ändern. Aber …«

»Aber wir wussten, dass nicht jeder unsere Art zu leben akzeptieren würde. Es war klar, dass früher oder später eines unserer Kinder darunter zu leiden haben würde.«

»Ich weiß«, sage ich unglücklich.

»Es ist überhaupt ein Wunder, dass es bisher noch nie zu Schwierigkeiten geführt hat.«

»Wir wissen es zumindest nicht«, antworte ich.

Er zieht die Augenbrauen hoch. »Denkst du, Micah oder Tessa hätten das verheimlicht?«

»Na ja, Tess hätte jedem Kind eins aufs Maul gegeben, das auch nur ein böses Wort verloren hätte.«

Will grinst. »O ja. Das hätte sie.«

Ich sehe ihn strafend an. »Das ist nichts Gutes!«

»Doch, absolut! Sie ist eine kleine Wildkatze, die sich nichts gefallen lässt. Das ist positiv.«

»Aber nicht das Verprügeln.«

»Ihr erster Schlag ist immer schon so vernichtend, dass es gar nicht erst zur Prügelei kommt.« Stolz schwingt in seiner Stimme mit.

Ich gebe ihm einen Stoß gegen die Schulter. »Das ist nichts, worauf man stolz sein kann.«

»Und ob.«

Die Augen verdrehend gebe ich mich an der Stelle geschlagen, weil ich eh nicht zu ihm durchdringen kann. »Und Micah hätte es wahrscheinlich verborgen, weil er niemanden verletzen will.«

»Hm. Ich hoffe nicht. Die Vorstellung, dass er versucht hat, selbst mit seinem Schmerz umzugehen, macht mich krank.«

Will ist immer noch der gleiche arrogante Spinner, der er vor sechzehn Jahren war, als wir uns kennengelernt haben, aber etwas hat sich geändert. Er versteht keinen Spaß, wenn es um unsere Kinder geht. Keiner von ihnen tut das. Wenn sie schon überbeschützend sind, was mich angeht, heben sie das auf ein ganz neues Level, wenn es um Micah, Tessa und Willa geht. Ich bin diejenige, die sie zügeln muss, denn sonst hätten die drei Homeschooling und würden niemals das Haus verlassen.

Ich streichele über seine Wange. »Mich auch.« Dann seufze ich. »Was können wir tun?«

»Puh, keine Ahnung. Wie viel Ärger würd ich kriegen, wenn ich dieses kleine Aas umbringe?«

»Wir können keine Achtjährigen töten.«

»Wieso nicht?«

Ich boxe ihm gegen die Schulter. »Darum nicht! Sei mal vernünftig.«

»Auf keinen Fall!« Er grinst, bevor er Ernst wird. »Im Grunde können wir nur mit der Lehrerin sprechen, vielleicht mit den Eltern von dem Arschloch-Kind. Und dann natürlich mit Willa. Ihr sagen, dass unser Leben vielleicht nicht das ist, was andere normal finden – was immer das auch heißen mag –, aber das wir sie und ihre Geschwister sehr lieben, dass wir einander lieben und das wir uns immer bemühen, ein liebevolles, sicheres Zuhause für sie zu schaffen.«

»Du kannst ja ein Softie sein«, scherze ich.

»Ich bin immer noch für den Mord.«

»Der ist vom Tisch.«

»Mist!«

Ich seufze. »Dann mach ich mal einen Termin mit der Lehrerin.«

»Soll ich hingehen?«

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Weil sei danach wahrscheinlich eine einstweilige Verfügung erwirken wird.«

Er lacht auf. »Das kann natürlich sein.«

Ich drücke meine Lippen auf seine. »Ich red mit ihr.«

»Nimm Tom mit. Er ist diplomatisch.«

»Sag das nicht so, als wäre das eine schlechte Eigenschaft«, scherze ich und stehe auf.

Er gibt mir einen Klaps auf den Hintern. »Wir haben alle unsere Talente.«

Während ich im Handy nach der Nummer suche, gehe ich zurück ins Wohnzimmer, so Matt mit Tessa am Esstisch sitzt und Mathehausaufgaben macht.

»Hey«, sage ich lächelnd. »Ich hab gar nicht gehört, dass ihr gekommen seid.« Ich drücke erst Tessa einen Kuss auf den Kopf, bevor ich Matts Lippen küsse.

»Alles okay?«, fragt er nach einem Blick in mein Gesicht.

Ich nicke. »Ich muss kurz telefonieren.«

Langsam trete ich in die Küche, tippe auf den Namen von Willas Lehrerin. Es klingelt eine Weile, bevor sie dran geht.

»Hallo?«, fragt Ms. Booth.

»Hallo, hier ist Thea Bennett, Willas Mutter. Haben Sie kurz Zeit?«

»Oh, Ms. Bennett, natürlich. Was kann ich für Sie tun?«

Ich mag sie. Sie ist enthusiastisch, kompetent und aufgeschlossen. Das haben wir bei Micah schon anders erlebt. »Willa ist heute weinend nach Hause gekommen, weil Amanda ihr gesagt hat, dass unsere Lebensform abartig ist. Das hätte ihre Mutter gesagt.«

»Oje. Das tut mir leid. Das hab ich gar nicht mitbekommen. Willa wirkte heute ein bisschen down, aber als ich sie fragte, sagte sie, dass alles in Ordnung ist.«

»Sie wollte auch nicht so richtig mit der Sprache raus«, sage ich.

»Die arme Kleine. Wie wollen wir da vorgehen?«

»Ich hatte gehofft, dass Sie eine Idee haben«, gebe ich zu.

»Das kann ich auf jeden Fall zum Anlass nehmen, um in der Klasse noch mal über Toleranz und Offenheit zu reden. Den Kindern zu vermitteln, dass es verschiedene Familienformen gibt, dass alle gleichermaßen richtig sind, solange alle Bedürfnisse gestillt werden.«

»Das wäre gut.«

»Normalerweise würde ich auch dazu raten, dass Gespräch mit der anderen Familie zu suchen, allerdings kenn ich Amandas Hintergrund nur zu gut, und denke nicht, dass es was Nützen würde.«

»Hm. Es wäre uns aber schon sehr wichtig, mit ihnen zu sprechen.«

Ich kann ihr Schulterzucken geradezu hören. »Wenn Sie darauf bestehen, werde ich das in die Wege leiten, allerdings würde ich mir nicht allzu viel davon versprechen. Die Eltern neigen nicht dazu, ihre Meinungen zu überdenken.«

»Trotzdem sollten wir es versuchen.«

»Dann sollten Sie vielleicht Mr. King schicken«, scherzt sie – sie kann nur scherzen, denn das würde zu einer Eskalation führen.

»Das hört sich nach einem Desaster an.«

»Nun ja, er wird sich gegen sie durchsetzen können …«

»Meinen Sie das ernst?«

»Absolut. Amandas Vater ist ein Hitzkopf, der dazu noch sehr aggressiv ist.«

»Danke für den Hinweis.« Dann bekommt Will vielleicht doch seinen Willen.

»Ich meld mich bei Ihnen, sobald ich einen Termin hab.«

»Danke und auch dafür, dass Sie es ernst nehmen.«

»Natürlich! Willa ist so ein glückliches Kind.«

Als ich aufgelegt habe, schaue ich einen Moment auf die Bay. Ja, das ist sie. Sie ist ein glückliches Kind. Mehr kann man nicht erwarten.

Arme schlingen sich um mich, Lippen finden meine Wange. »Hey«, murmelt Tom, zieht mich an sich.

»Hey«, erwidere ich, lasse mich gegen ihn sinken.

»Alles okay?«

Ich zucke mit den Schultern. »Nicht ganz, aber das wird schon wieder.«

»Kann ich was tun?«

»Dafür sorgen, dass Will niemanden umbringt?«

Er lacht leise auf. »Unmöglich.«

Ich drehe mich um, schaue in seine traumhaften Augen. »Dann werden wir ihm wohl einen Kuchen mit Feile backen müssen.«

Bevor er fragen kann, was los ist, kommt Micah in die Küche gesaust. »Dad!« Sein ganzes Gesicht strahlt, als er ihn sieht.

Tom ist immer noch ziemlich viel für seine Projekte unterwegs. Je größer sein Ruhm als Architekt, desto weiter scheint es ihn fortzuziehen. Aber er bemüht sich immer, die Balance zu finden. So wie wir alle. Vier Erwachsene, vier Workaholics. Unsere armen Kids.

Tom verwuschelt seine Haare, grinst ihn an. »Alles gut?«

»Wie lange bleibst du? Können wir am Wochenende trainieren?«, fragt er aufgeregt.

Toms liebste Sportart ist Parcours. Immer noch, auch wenn er zwei, drei Gänge zurückgeschaltet hat – Gott sei Dank! –, und Micah will in seine Fußstapfen treten.

»Ich will auch!«, ruft Tess, die auf keinen Fall außen vor bleiben will, auch wenn sie sich mehr für Karate interessiert.

»Alles klar. Dann haben wir am Wochenende ein Date.« Tom hält Micah seine Faust hin.

Glücklich sieht er ihn an, tippt seine dagegen.

Ich weiß, dass er Zeit finden wird, auch mit Micah allein zu trainieren. Was nicht so einfach ist, denn alle freuen sich, wenn er wieder da ist. Zumindest in der ersten Woche. Danach ist es fast schon wieder normal, ihn wieder zu Hause zu haben.

Micah nimmt sich einen Apfel, bevor er sich zu Tessa setzt, deren Kopf schon raucht. Mathe ist ganz sicher nicht ihr Lieblingsfach.

Tom streichelt meine Wange. »Ich hab für das ganze nächste Jahr nur Projekte in San Francisco.«

»Was? Das ist ja fabelhaft!« Ich schlinge meine Arme um ihn. »Wie kommts?«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich will nichts mehr verpassen.«

Eine kleine Kanonenkugel trifft gegen Toms Beine, und er lacht auf, als er Willa in die Arme zieht.

Dann schaut er zu Tess und Micah. »Sind die Hausaufgaben fertig?«

»Noch diese Aufgabe«, murmelt Tess.

»Alles klar! Denn heute ist Kino-und-Pizzatag!«

Daraufhin jubeln sie alle drei, und auch Matt sieht nicht unglücklich aus.

Als Tessa verkündet, dass sie fertig ist, setze ich mich auf Matts Schoß, während die Rasselbande nach oben verschwindet, um sich anzuziehen, die Hände zu waschen und irgendwelche Katastrophen zu fabrizieren.

Will kommt aus dem Büroflur. »Hab ich da was von Pizza gehört?« Er begrüßt Tom mit einem Schulterklopfen.

»Hey, ich muss meine Abwesenheit doch wieder gut machen«, meint dieser grinsend.

»Immer will er sich einschleimen«, beklagt sie Will bei Matt.

Dieser lacht. »Sagt derjenige, der sich von allen um den Finger wickeln lässt.«

Will kneift die Augen zusammen. »Hey, ja, wie soll man zu ihnen auch Nein sagen?«

Ich verdrehe die Augen. »Ganz ehrlich: Ihr seid alle drei solche Softies!«

Matt schlingt seine Arme um mich, bevor er mir ins Ohr flüstert: »Da müssen wir dir heute Nacht wohl das Gegenteil beweisen.«

Und bei diesen Worten läuft mir ein wohliger Schauer über den Rücken. Die versprechenden Blicke, die mir Will und Tom schenken, tun ihr übriges.

Ich liebe sie. Auch nach all diesen Jahren noch.

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