Bonusszene All the things we hate
Aisling
Damals
Ich stehe auf der Bühne, habe meine Finger in den Stoff meiner Hose gekrallt. Sie alle sind da.
Mom und Dad. Tante Bernie und Onkel Diarmaid. Tante Angela und Onkel Declan. Tante Eileen und Onkel Denis. Selbst Granny und Gramps sind gekommen, obwohl sie nicht mehr gern das Haus verlassen.
Und natürlich sind auch meine bekloppten Brüder dabei, die jetzt in ihrer Reihe sitzen und versuchen, mit irgendwelchen verrückten Grimassen einander auszustechen. Ich glaube, eines der kleineren Kinder weint schon, weil Riaan eine wirklich entsetzliche Fratze aufgelegt hatte.
Nicht ablenken lassen. Auf gar keinen Fall.
»Und dann ist da noch unser letzter Teilnehmer. Ford Prince.«
Ford ist gerade neu in meine Klasse gekommen. Vorher war er im Internat. Und davor war er schon mit Riaan befreundet gewesen, auch wenn ich nicht viel Kontakt mit ihm hatte.
Ich werfe einen Blick auf meine Konkurrenz, und denke mir, dass es ganz sicher kein Problem sein wird, auch diesen Mathewettbewerb zu gewinnen. Schließlich habe ich bisher jeden einzelnen Wettbewerb gewonnen.
»Bitte rufen Sie keine Antworten rein, wenn Sie sie wissen«, erklärt gerade die stellvertretende Schulleiterin.
Aber ich glaube nicht, dass irgendjemand schneller rechnen wird als ich, daher brauche ich mir da keine Sorgen machen. Ich atme noch mal tief durch, bemühe mich, meine Familie zu ignorieren, die glauben, dass sie unterstützend sind, aber für ein Mädchen in meinem Alter ist sowieso alles nur peinlich.
»Nicholas, wir beginnen mit dir.«
Ich höre das erschreckte Einatmen, und frage mich wirklich, wieso Nicholas Bartlett es überhaupt ins Finale geschafft hat. Zum einen ist er nicht gut in Mathe, zum anderen ist er aber auch einfach niemand, der gern vor Publikum steht. Daher hätte ich gedacht, dass er sich eher verstecken würde, als heute dabei zu sein.
»Wenn eine Hose 15,75 Dollar kostet, und es einen Rabatt von fünfzehn Prozent gibt, wie viel kostet die Hose dann? Runde ab oder auf, wenn nötig.«
Jeder Teilnehmende muss die Aufgabe im Kopf rechnen und hat je nach Runde eine bestimmte Zeit. In der ersten Runde haben wir eine Minute.
Als ich die Lösung habe, vibriere ich geradezu, muss mich zusammenreißen, dass ich sie nicht einfach herausschreie. Kann sein, dass mir sowas ab und an passiert. Weil ich es nicht fassen kann, das jemand anderes so eine pupileichte Aufgabe nicht lösen kann.
Gerundet 13,39 Dollar. Einfacher geht es doch wohl kaum.
»Ähm, also«, beginnt er, und ich verdrehe schon die Augen. Ich befürchte allerdings, dass ich es nicht nur innerlich tue. Dabei sagt Mom doch immer, dass es keine gute Eigenschaft ist, sich anderen überlegen zu fühlen. Aber wenn man es doch ist?
»Vielleicht drei… dreizehn Dollar.« Ich schaue zu Nicholas, der aussieht, als wäre er gerne überall, aber nicht hier. »Fünfzig.«
»Falsch«, flüstere ich vor mich hin.
»Hast du was gesagt, Aisling?«, fragt die stellvertretende Schulleiterin streng.
»Nein, Miss Harding«, sage ich schnell.
»Die Antwort ist leider nicht richtig, Nicholas. Es sind 13,39 Dollar.«
Ich flüstere das Ergebnis ganz ganz leise mit ihr.
»Aisling, weil du es ja offensichtlich nicht abwarten kannst. Ein Buch kostet 12,73 Dollar und du hast einen Gutschein über elf Prozent. Wie teuer ist dann das Buch? Runde auf oder ab, wenn nötig.«
»Erst mal glaube ich nicht, dass ein Buch so einen krummen Preis hat, aber die Antwort lautet aufgerundet 11,33 Dollar.«
»Die Antwort ist richtig.«
Applaus brandet auf, und meine Familie ist wie immer am lautesten. Die Sullivans sind schon allein durch ihre Anzahl auffällig, aber sie sind auch noch ziemlich verrückt. Mom wollte sogar, dass ich heute ein Kleid trage. Kann man sich das vorstellen?
»Ford, für dich ist folgende Aufgabe: Dein T-Shirt kostet 16,98 Dollar und du bekommst zwanzig Prozent Rabatt. Wie viel kostet es dann? Runde ab oder auf, wenn nötig.«
»Das sind 13,58 Dollar«, kommt es wie aus der Pistole geschossen.
Zum ersten Mal starre ich Ford an. Bisher hatte ich nicht gemerkt, dass er sich in Mathe irgendwie hervorgetan hätte. Aber die Antwort kam ziemlich schnell. Ob er eine Konkurrenz ist? Nein, nein. In Mathe kann mich niemand schlagen. Ganz sicher nicht.
»Die Antwort ist richtig. Kommen wir zu dir, Samantha.«
Miss Harding stellt auch den anderen Kindern ihre Aufgaben. Aber wie ich es mir gedacht habe, sind sie alle keine richtige Konkurrenz. Dieser Ford allerdings … Und wieso musste Riaan sich eigentlich mit ihm befreunden?
»Kommen wir zur zweiten Runde. Nicholas, folgende Aufgabe: Ein Baseballspieler schlägt in einer Saison vierzig Mal. Er trifft den Ball fünfundzwanzig Mal. Wie hoch ist sein Schlagdurchschnitt?«
Und wieder zittert Nicholas wie Espenlaub, wünscht sich überall zu sein, nur nicht hier. Ich will die Antwort hineinrufen, bin schon ziemlich genervt, weil sie alle so lang brauchen, wenn die Antworten doch wirklich leicht sind. Das kann man doch nicht anders sagen.
»Ähm, dann … Erfolgreiche Treffer durch gesamte Schläge … Hm, ich … ich …«
»O Mann, Nicholas!«, rufe ich, weil ich mich einfach nicht zurückhalten kann. »Es sind …«
»Aisling Sullivan!«, donnert Miss Harding. »Wenn du dich nicht kontrollieren kannst, dann muss ich dich vom Wettbewerb ausschließen.«
Ich bekomme hochrote Wangen, als ich nicke. »Entschuldigung, Miss Harding.«
Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass sie mir einen strengen Blick zuwirft. Dann sagt sie: »Nicholas?«
»Null Komma … Ich weiß es nicht, Miss Harding.«
»Die Antwort lautet 0,625.«
Wieder flüstere ich die richtige Lösung vor mich hin, aber dieses Mal habe ich das Gefühl, dass es ein Echo gibt. Überrascht schaue ich zu Ford, der ebenfalls murmelt. Hm. Das kann doch nicht sein, oder?
»Aisling, deine Aufgabe lautet: Du kaufst einen Burger für 5,99 Dollar, eine Limonade für 1,50 Dollar und eine Portion Pommes für 2,25 Dollar. Wie viel zahlst du insgesamt? Wie viel Wechselgeld bekommst du, wenn du mit einem Zwanzig-Dollar-Schein bezahlst?«
Pupileicht. »Es sind insgesamt 9,74 Dollar und ich bekommen 19,26 Dollar Wechselgeld.«
»Richtig.«
Wieder brandet Applaus auf, aber ich wage es nicht, zu meiner Familie zu sehen, weil ich mir schon vorstellen kann, dass Mom nicht besonders glücklich über mein Benehmen ist. Aber das ist sie ja eigentlich nie …
Und ich bin mir auch ganz sicher, dass meine Brüder keine Rüge bekommen hätten. Es ist doch einfach ätzend, ein Mädchen zu sein.
»Ford, deine Aufgabe lautet: Eine Schachtel Donuts enthält zwölf Donuts. Vier Kinder teilen sich die Schachtel. Zwei Kinder essen je drei Donuts, und die anderen teilen den Rest gleichmäßig. Wie viele Donuts bekommt jedes der beiden anderen Kinder?«
Er muss ihr Liebling sein, anders kann ich es mir nicht erklären, wieso er so leichte Aufgaben bekommt. Drei. Die Antwort ist drei. Das weiß doch jeder.
Leider auch Ford … Mist.
Die anderen Kinder bekommen ihre Aufgaben. In die nächste Runde kommen nur die weiter, die richtig geantwortet haben. Daher sind wir noch fünf. In der nächsten Runde sind wir noch drei, und dann sind da nur noch Ford und ich.
Immer, wenn ich zu ihm gucke, lächelt er mich an, was mich nur noch wütender macht. Ich kann es gar nicht leiden, wenn mich jemand in Mathe schlagen will!
»Ford, deine Aufgabe lautet: Löse die Gleichung 5x+4=29.«
Wieder so was leichtes. Pah. Fünf. So schwer kann das doch wohl nicht sein.
»Die Antwort lautet fünf.«
Das hätte ja ein Baby gekonnt.
»Aisling: Wenn die Gleichung lautet 3x-7=20. Was ist dann x?«
»Neun, Miss Harding.«
Und so geht es ein paar Runden weiter. Wir beide lösen jede Aufgabe, und ich werde immer genervter, weil ich doch die Mathe-Queen bin!
»Wie wir alle sehen, seid ihr beide echte Mathe-Champions«, sagt Miss Harding, wirft mir dabei einen prüfenden Blick zu. »Wir brauchen ein Stechen. Ich stelle eine Aufgabe und wer als erstes die Antwort ruft, hat gewonnen. Seid ihr bereit?«
Ich wippe auf den Füßen, denke, dass es nichts leichteres gibt, als diese Aufgabe zu lösen. Ich habe wirklich Glück. Schließlich kann mich niemand schlagen, wenn es um Geschwindigkeit geht. Ich habe die Sache so was von im Sack.
»Ja, Miss Harding«, sagen wir beide gleichzeitig.
Sie nickt, bevor sie sagt: »Dann löst folgende Aufgabe: Ein Raum ist fünfzehn Fuß lang und zwölf Fuß breit. Wie groß ist die Fläche in Quadratfuß?«
Pupileicht! Ich habe gewonnen!
Ich will gerade rufen, als ich neben mir höre: »Hundertachtzig Quadratfuß.«
Nein!
Fassungslos starre ich Ford an, der ein stolzes Lächeln auf dem Gesicht hat. Wie kann das sein? Er kann einfach nicht vor mir auf die Lösung gekommen sein. Das geht einfach nicht!
»Richtig, Ford. Damit hast du diesen Mathewettbewerb gewonnen. Herzlichen Glückwunsch.«
»Danke, Miss Harding.«
Er sieht zu mir, lächelt, bevor er kommt, mir seine Hand hinhält. »Gutes Match.«
Ich starre ihn finster an, bevor ich mich einfach umdrehe und gehe. Ohne seine Hand zu schütteln. Wie käme ich auch dazu?
Ich stürme von der Bühne.
»Schätzchen«, höre ich Mom sagen, als ich mich in ihre Arme werfe, und bittere Tränen weine.
Sie streichelt meinen Kopf, herzt mich. Sie sagt nicht, dass jeder mal verlieren kann, was mich nur noch wütender gemacht hätte. Sie hält mich einfach nur fest.
Ich höre meine doofen Brüder, die mich mit Sicherheit aufziehen werden, weil ich verloren habe.
Als ich mich ein bisschen beruhigt habe, wischt Mom meine Tränen ab. Ich bin umgeben von meiner Familie, die mir alle gratulieren, weil es ein toller Wettbewerb war. Und der zweite Platz ist doch auch super … Sie haben eben keine Ahnung, weil sie nie so einen Test gewonnen haben. Der zweite Platz ist der erste Verlierer.
»Na, dann komm, Spätzchen«, sagt Mom. »Zu Hause wartet Torte.« Und ganz vielleicht ist der Tag nicht vollständig ruiniert.
Als ich mit meinem Support-Team den Raum verlasse, drehe ich mich nicht einmal um. Denn sonst hätte ich gesehen, dass der Sieger des Wettbewerbs ganz allein, ein bisschen verloren im Raum steht, und sehnsüchtig zu uns rübersieht …