Bonusszene Megan & Carl (Alaska 8)
Fünf Jahre später
Carl
Ich drücke ihre Hand, habe meinen Kopf neben sie auf das Kissen gelegt, und gemeinsam starren wir dieses Wunder an, das da plötzlich auf ihrer Brust liegt. Wir haben schon die Finger gezählt, haben die Zehen gezählt – es sind tatsächlich jeweils zehn! –, haben ihre kleinen Öhrchen bewundert, die Stupsnase, die perfekten Lippen.
Sie ist perfekt.
Allerdings ist sie namenlos.
Denn so sehr Megan und ich uns in den letzten neun Monaten auch angestrengt haben, es ist uns kein Name eingefallen, den wir beide gut finden. Sie hat meine Vorschläge abgelehnt – Meredith, Joanne und Lorna –, und ich habe ein Veto bei ihren eingelegt – Calista, Tracy und Melanie. Wir wissen, dass wir sie mit zweitem Namen Lynn nennen wollen, nach ihrer einzigen Tante, aber Namenlos Lynn hört sich mit jeder Sekunde wahrscheinlicher an.
»Sie ist perfekt«, murmelt Megan müde.
Das darf sie auch sein. Dreizehn Stunden hat sie sich abgemüht, bis dieses Wunder endlich da war. Jakob war da, Maggie war da, ebenso wie die Hebamme, die Jakob eingestellt hat.
Jetzt sind wir das erste Mal allein. Vater, Mutter, Kind. Nicht, dass ich das jemals gespielt hätte … Aber jetzt habe ich es in der Realität.
»Das ist sie.« Ich drücke einen Kuss auf ihre Wange. »So wie du.«
Ich kann mein Glück gar nicht wirklich fassen. Damals habe ich alles versaut, und doch hat sie mir noch eine Chance gegeben. Ich habe gedacht, dass wäre der glücklichste Tag in meinem Leben gewesen, als sie endlich zu mir zurückgekehrt ist. Aber dann haben wir geheiratet, und ich habe gedacht, dass wäre der glücklichste Tag meines Lebens gewesen.
Und jetzt ist da dieser Tag …
Dieser Tag, an dem ich zum ersten Mal das kleine Wunder sehe, das ich bisher nur gespürt habe, wenn ich meine Hand auf Megans Bauch gelegt habe. Dieser Tag, an dem mein Herz so viel voller ist, als ich es je für möglich gehalten habe. Dieser Tag, an dem ich in Megans Gesicht schaue, und ein solches Entzücken sehe, wie noch nie.
Namenlos Lynn.
Du bist gerade mal eine Stunde alt, und schon das meistgeliebte Kind auf diesem Planeten …
Es klopft leise, und Rae steckt den Kopf zur Tür herein.
»Hey, ihr«, sagt sie leise. »Darf ich meine Nichte besuchen?«
»Komm rein«, sagt Megan schläfrig.
Als ich sehe, wie meine kleine Schwester auf mein Baby schaut – okay, auf unseres –, muss ich schlucken. Bisher kannte ich die Rolle nur umgekehrt. Damals, als Jakob Katie bekommen hat, habe ich meine Nichte angeschaut. Als Rae und Maverick ihre zwei Kinder bekommen habe, habe ich diese angesehen, und als Jakob und Sally noch eine Tochter bekommen haben, stand ich ebenfalls da. Letztes Jahr haben Alex und Noah ihre Tochter bekommen, und wieder habe ich auf sie herabgeblickt.
Mit genau dem gleichen Ausdruck auf dem Gesicht, wie Rae jetzt.
Erstaunen, Entzücken, Liebe.
»Sie ist perfekt«, sagt sie leise, drückt Megans Hand.
Dann wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht, kommt auf meine Seite des Betts. »Daddy.« Sie grinst mich an, bevor sie mich umarmt.
Megan und ich waren uns sicher, dass wir Kinder wollten, unglaublich sicher. Aber es hat nicht gepasst. Meg hat das Restaurant, das ihre ganze Aufmerksamkeit erfordert hat, dann gab es Probleme in der Baubranche – vor allem, weil Holz plötzlich doppelt so teuer wurde –, und wir mussten zittern, ob das Unternehmen untergeht oder sich behaupten kann.
Aber irgendwann muss man es einfach tun. Es wird nie den perfekten Zeitpunkt geben. Es wird immer Gründe geben, wieso man es nicht machen kann.
Kinder sind auch einfach nichts, was passt. Sie sind das, wofür man die Welt umstellt, damit die Welt für sie passt.
Ich wische mir über die feuchten Augen. »Ich kann gar nicht fassen, wie ich so viel Glück verdient hab.«
»Wenn es einer hat, dann ja wohl du«, erklärt Rae.
»Danke.«
»Alsoooo, ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man erst mal seine Ruhe will, aber wir leben hier schließlich in Whynot. Daher kann ich euch nur sagen, dass da eine Schlange rund um den Block ist …«
Megan schüttelt den Kopf. »Das kann ich nicht.« Und es klingt ein bisschen Grauen in der Stimme mit.
Und ich will ganz sicher Namenlos Lynn nicht Mitten im Winter aus dem warmen Haus bringen …
Ich nicke. »Ich werd mit ihnen reden, die Glückwünsche entgegen nehmen, und dann komm ich wieder.«
»Mach ein paar Fotos von der kleinen Maus«, sagt Rae. »Dann kannst du ihnen wenigstens was zeigen.«
»Gute Idee«, murmelt Megan, die aussieht, als würde sie gleich einschlafen.
Ich hole mein Handy, fotografiere das zuckersüße Gesichtchen, dann noch die Füße, schließlich glaubt sonst niemand, dass sie wirklich zehn Zehen hat. Und zack, fünfzig Fotos …
Rae grinst mich an. »Das ist ab sofort deine Realität. Wenn du dachtest, dass du schon viele Fotos von Miss Marple gemacht hast, lass dir gesagt sein: Von nun an brauchst du die Handys mit dem größten Speicherplatz.«
»Sieht so aus«, gebe ich ein wenig verlegen zu, während ich durch die Fotos scrolle, um sie mit dem Original zu vergleichen.
Ich küsse Megan, lege meine Hand auf das kleine Köpfchen meiner Tochter, bevor ich das Paradies verlasse, und aus Jakobs Praxis trete. Rae hatte nicht übertrieben. Es ist tatsächlich eine lange Schlange da. Trotz minus zwanzig Grad. Alaskaner. Sie sind einfach verrückt.
Ich zeige allen die Fotos – wobei meine Finger abfrieren –, nehme die Glückwünsche entgegen, und versprechen jedem, dass sie Namenlos Lynn bald kennenlernen können. Mal sehen, wann dieses bald sein wird. Habe so das Gefühl, als würde ich sie für mich behalten wollen …
Als ich wieder in die Praxis trete, sitzt Rae auf einem Stuhl am Bett, Megan schläft und das Baby liegt im Babybett.
Jakob legt eine Hand auf meine Schulter. »Wie geht es dir?«
»Keine Ahnung«, gebe ich zu. »Ich bin so froh, dass sie da ist, und ich hab solche Angst, dass ich alles versauen werde.«
Jakob nickt. »Hört sich wahr an.«
»Wie überlebt man das?«
»Einen Tag nach dem anderen.« Er zuckt grinsend mit den Schultern. »Ich kann dir keinen anderen Rat geben. Klar, ich könnte sagen, relax … Aber das nützt nichts, weil es sowieso keine Wirklichkeit wird.« Er lacht auf. »Du wirst mindestens achtzehn Jahre lang unter Hochspannung stehen. Und ich befürchte, eigentlich noch länger, wenn man Mrs. C betrachtet.«
»Oje. Da werd ich wohl einen Herzinfarkt haben, bevor ich vierzig bin.«
»Das ist schon in einem Jahr.«
»Sag ich doch.«
Lachend schüttelt er den Kopf. »Ich denke, du hältst ein wenig länger aus. Hey, übrigens … Ich soll euch schöne Grüße von Kay ausrichten. Er will so schnell wie möglich herkommen, aber weiß nicht, wann er es schafft.«
Ich nicke, lächele. Unser jüngster Bruder ist in Harvard. Wer hätte das je gedacht? Dass er mal an einer Eliteuni studieren würde? Aber sobald er auf das Internat in der Nähe von Boston gewechselt ist, wurde sein Ehrgeiz angestachelt – vielleicht auch, weil er sich in das klügste Mädchen seiner Klasse verliebt hat, die ihm anfangs nicht mal die Uhrzeit sagen wollte, weil sie nur auf kluge Jungs steht. Natürlich hat die Beziehung nicht lange gehalten – wobei wieso natürlich? Immerhin bin ich mittlerweile mit meiner ersten (und einzigen) Liebe verheiratet. Aber Kay hatte das Glück nicht. Stattdessen hat er als Jahrgangsbester abgeschlossen, und konnte sich die Eliteuni aussuchen. Weil er Boston schon kannte, ist er da geblieben.
Ich bin sehr stolz auf ihn. Obwohl ich ihn immer noch vermisse. Er kommt ab und zu nach Whynot, aber ich denke, dass unsere Welt ihm mittlerweile einfach zu klein geworden ist. Er ist für größeres bestimmt.
Megan regt sich, aber wacht nicht auf.
»Wie lange können wir bleiben?«, frage ich.
»So lange ihr wollt.«
»Meinst du, die kleine Namenlos Lynn wird es überleben, wenn wir sie nach Hause bringen? In der Kälte?«
»Wenn du nicht bis April in der Praxis wohnen willst, musst du sie wahrscheinlich irgendwann rüberbringen.«
»Hm, klingt immer verlockender …«
Jakob grinst. »Wir packen sie gut ein, und Noah kann vielleicht schon mal die Heizung bei euch hochdrehen, bevor ihr nach Hause kommt.«
Wir wohnen in Megans Haus. Eigentlich wollte ich uns was Neues bauen, aber stattdessen haben wir immer wieder angebaut, sodass das Haus jetzt einen eher ungewöhnlichen Grundriss hat. Aber normal kann ja jeder …
Ich schaue in das kleine Babybett. Ein Wunder. Sie ist einfach ein absolutes Wunder.
Megan schlägt plötzlich die Augen auf. »Elizabeth Lynn Brookner.«
Ich lege den Kopf schief, schaue meine Tochter an. Lizzie. Oh, ich glaub, das mag ich …
Ich drücke Megan einen Kuss auf die Stirn, streiche die wirren Haare aus dem Gesicht. »Perfekt.«
Und dann ist sie nicht mehr namenlos …