Bonusszene Orla
Leo
Erste Begegnung
Wie immer habe ich die Zeit in der Dunkelkammer vergessen. Als ich heute morgen das rote Licht eingeschaltet habe, hatte ich den Plan, nur ein, zwei Fotos zu entwickeln, bevor ich zum Supermarkt fahre, um einzukaufen. Aus den ein, zwei Fotos wurden zwanzig. Aus der halben Stunde maximal wurden sechs. Und als ich dann endlich losfahre, bin ich halb verhungert.
Ich schnappe mir einen Wagen, fahre ein wenig gedankenverloren durch die Gänge, als ich plötzlich um eine Ecke biege und … Rums.
»Oh, sorry«, sagt die schönste Frau, die ich je gesehen habe.
Meine Schwestern ziehen mich immer damit auf, dass ich ein Romantiker bin, und vielleicht ist es kitschig, aber ich fühle mich sofort zu ihr hingezogen. Als wäre es Schicksal, dass wir uns heute an diesem Tag hier treffen.
Jetzt darf ich es bloß nicht versauen.
Ich strahle sie an. »Nein, mir tut es leid. Ich hätte besser aufpassen sollen.«
»Schon okay«, antwortet sie. Sie hat honigblondes, langes Haar – das jetzt allerdings in einem Messybun auf ihrem Kopf aufgetürmt ist.
Mir muss was Gutes einfallen. Irgendwas. »Ich heiße Leonardo. Und wie heißt du?« Ja, großartig. Sonst ist Eloquenz doch etwas, was mir zufliegt. Ich möchte meinen, dass ich recht charmant bin. Wieso dann nicht dann, wenn es so richtig zählt?
»Mein Name ist Kein Interesse.«
»Ich geb zu, das ist schon ein ungewöhnlicher Name, aber meine Mamá hat mich nach da Vinci benannt, daher hab ich wohl kein Recht, zu spotten.« Das ist schon besser, allerdings macht sie nicht den Eindruck, als würde sie sich von meinem Charme überzeugen lassen …
»Nicht nach einem Ninja Turtle?« Ahhh, und damit habe ich einen Fuß in der Tür. Das würde sie doch nicht sagen, wenn sie von mir einfach nur genervt wäre. Oder? Zumindest möchte ich mir das einreden.
»Könnte man meinen, aber die erste Zeichentrickserie kam 1987 ins Fernsehen, also in meinem Geburtsjahr. Wäre möglich, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Mamá nicht so auf sprechende Schildkröten steht.« Ich lache auf, hoffe, dass ich sie damit überzeuge, mir noch eine Minute ihrer Zeit zu schenken. Mehr will ich ja gar nicht. Eine Minute, die dann zu einer weiteren führt, und dann noch zu einer und immer so weiter, bis an … Okay, langsam, sage ich mir, sonst mache ich ihr vielleicht gleich schon einen Antrag …
»Ich bin mir gerade nicht sicher, ob ich beeindruckt sein soll, dass du weißt, wann sie erschienen sind, oder entsetzt. Ich nehme wohl Letzteres.«
Ich greife mir ans Herz. »Oh nein, bitte nicht. Ich weiß absolut gar nichts über Leonardo, Donatello, Raphael und Michelangelo. Rein gar nichts. Nicht, wer welche Farbe trägt oder wer welche Waffe führt. Nichts. Rein gar nichts. Leonardo ist übrigens blau, was zufällig meine Lieblingsfarbe ist. Aber wirklich. Ich weiß echt nichts.«
Sie grinst, was ich für ein gutes Zeichen halte. Vielleicht bekomme ich noch eine weitere Minute. »Das merk ich, du weißt gar nichts über die Kröten. Wie konnte ich nur denken, dass du Experte bist?«
»Ich wirke oftmals so, als wüsste ich mehr, als ich weiß.«
»Bedeutet im Klartext, dass du ziemlich viel Unsinn quatschen kannst?«
»Ganz genau. Aber man merkt nicht, wann es Unsinn ist und wann nicht.« Rede ich mich um Kopf und Kragen oder hat sie Spaß? Bekomme ich noch eine Minute mehr?
»Das ist ja ganz gefährlich.«
»Na, für mich nicht.« Ich lache auf, während ich versuche, in ihrem Gesicht zu lesen. Sie hätte gehen können, hat sich aber fürs bleiben entschieden. Das muss ein gutes Zeichen sein.
Sie sieht mich ein wenig zerknirscht an. »Tut mir leid, dass ich so aussehe. Ich hab heute frei und hab beschlossen, rumzugammeln und nur Fast Food zu essen.«
»Wie siehst du denn aus? Bezaubernd?«
Sie lacht auf. »Oh bitte. Das ist ein bisschen dick aufgetragen, oder?«
»Ach, findest du? Dann bin ich ja froh, dass ich nicht direkt gesagt hab, dass ich finde, dass du die schönste Frau bist, die ich je gesehen hab.« Es mag wirklich ein wenig zu viel sein, aber sie lächelt, und ihre Wangen bekommen ein klein wenig Farbe, was ihr sehr gut steht.
»Dann bin ich froh, dass du es bei bezaubernd belassen hast, denn das andere hätte ich dir niemals geglaubt. Oder bist du blind?«
Vehement schüttele ich den Kopf. »Ich würde diesen Tag verfluchen, wenn ich blind wäre, denn dann wär mir deine Schönheit entgangen.«
»Du Charmeur.«
»Schuldig. Du machst es mir leicht.« Ich sehe in ihren Einkaufswagen. Vielleicht gibt sie mir einen Korb, aber ich muss es versuchen. »Hey, ich find deinen Plan ziemlich genial.«
»Welchen Plan?«
»Mich zu Pommes, Cola und Netflix einzuladen.«
Ihr Lachen ist einfach bezaubernd. »Ach, hab ich das?«
»Ich denke doch. Sonst hättest du bestimmt nicht meine liebsten Pommes im Wagen liegen. Aber wir brauchen noch Chicken Nuggets. Es geht einfach nicht ohne. Das ist das Gesetz.« Ich setze alles auf eine Karte. Vielleicht ist es zu schnell. Vielleicht ist es zu viel, aber ich habe das Gefühl, ich muss diese Gelegenheit mit beiden Händen ergreifen.
Ich gehe zur Tiefkühlabteilung und hoffe einfach, dass sie mir folgt. Zu meiner Erleichterung tut sie es tatsächlich. Puh. Da mache ich gedanklich die Kreuze.
Ich suche nach den Nuggets, packe auch noch eine weitere Packung Pommes in meinen Wagen, und denke dann, dass wir noch Nachtisch brauchen.
»Welche Eissorte magst du?«
»Ähm, Chocolate Mint.«
»Sehr gut.« Ich hole die Sorte aus dem Eisschrank, bevor ich den Weg zur Kasse einschlage.
»Du kannst nicht alles bezahlen.«
»Wieso nicht?« Ich bin altmodisch, weswegen ich auf jeden Fall bezahlen werde. Als würde ich die Frau – noch dazu meine Traumfrau! – beim ersten Date zahlen lassen. Es mag ein wenig ungewöhnlich sein, aber es ist ein erstes Date.
»Leo …«
»Oh, du hast schon einen Spitznamen für mich. Vielversprechend.« Ich zeige zu einem anderen Regal. »Chips? Schokolade?«
»Hm.«
»Oh komm, sei nicht beleidigt, weil ich dich einladen will. Das steht dir gar nicht gut.«
»Du bist total unmöglich.«
Ich beuge mich zu ihr. »Ich verrat dir ein Geheimnis.«
»Jetzt bin ich gespannt.«
»Das hab ich schon öfter gehört.«
Sie lacht. Das ist auf jeden Fall ein gutes Zeichen! »Furchtbar bist du!«
»Auch das, Querida. Auch das.«
Sie sucht sich Süßigkeiten aus, legt sie in ihren Wagen, aber das bekümmert mich nicht.
Als wir an der Kasse sind, packe ich ihre Einkäufe mit meinen aufs Band.
»Dann machen wir aber halbe-halbe«, sagt sie.
»Das machen wir ganz sicher nicht.«
»Doch, natürlich! Ich bin eine emanzipierte Frau.«
»Und ich ein altmodischer Mann.« Ich zwinkere ihr zu.
»Ich hab nicht mal die Beine rasiert.«
Und dabei muss ich lachen. »Oh Gott, du bist echt zum Schießen. Ich erwarte keinen Sex als Bezahlung. Aber ich hoffe, du hast irgendeinen Streamingdienst, damit wir den ganzen Tag auf der Couch rumgammeln können.«
»Vorhanden.«
»Sehr gut.«
Ich bezahle mit Karte, bevor wir den Supermarkt verlassen. Sie deutet auf ihren Wagen, und ich bedeute ihr, dass ich ihr folgen werde.
Auf dem Weg zu ihrem Haus frage ich mich, ob heute wirklich mein Glückstag ist. Kann es wirklich sein, dass man seine Traumfrau im Supermarkt trifft?
Als ich hinter ihrem Wagen in ihrer Einfahrt parke, kommt sie zu mir, macht ein Foto von meinem Kennzeichen. Ich bin froh, dass sie auf Sicherheit achtet. Schließlich könnte ich ja irgendwer sein.
Ich weiß natürlich, dass ich nur die allerbesten Absichten habe, aber es hätte sie ja auch ein Stalker ansprechen können, der eigentlich gar nichts über die Ninja Turtles weiß … Dass sollte auf jeden Fall als Beweis gelten, dass ich einer von den Guten bin.
Sie sieht mich ein wenig unsicher an, aber ich grinse, damit sie weiß, dass ich absolut kein Problem damit habe, dass sie mein Kennzeichen an eine Freundin oder wen auch immer schickt.
Ich trete an den Kofferraum, hole die Tüten raus. Sie will mir helfen, aber die paar Tüten schaffe ich alleine. Ich folge ihr ins Haus. Auf dem Weg in die Küche schiebt sie mit dem Fuß alle möglichen Dinge zur Seite. Ich liebe das Chaos. Es zeigt, dass hier richtig gelebt wird.
»Entschuldige die Unordnung.«
Ich stelle die Tüten auf die Kücheninsel. »Ach, das ist doch normal, wenn man Kinder hat. Und wenn das nicht so ist, dann ist mir das ganz schön suspekt.«
»Hast du auch Kinder?«
»Nein, aber ich bin der weltbeste Onkel.« Das bin ich wirklich, und das sage ich nicht nur so. Dass haben mir meine Schwestern schriftlich gegeben. »Soll ich dich übrigens weiter Kein Interesse nennen oder verrätst du mir doch deinen Namen?«
Sie schlägt sich die Hand vor den Kopf. »Sorry, wirklich. Ich heiße Orla.«
»Ein schöner Name. Wo kommt der her?«
»Er ist irisch.«
»Schöne neue Welt, in der Iren und Mexikaner nicht in verfeindeten Gangs sind, sondern gemeinsam auf der Couch abhängen können.«
Gott, ich liebe ihr Grinsen jetzt schon. »Sonst hätte das so eine West-Side-Story-Geschichte werden können.«
»Dann bin ich Maria?«, scherze ich.
Sie sieht mir auf die Beine, und ich widerstehe dem Drang, mich irgendwie in Pose zu werfen. Ich wüsste auch gar nicht, wie man Männerbeine besonders gut in Szene setzt, um ehrlich zu sein. »Sorry, aber ich schätze, Natalie Woods Beine waren hübscher.«
Ich mag ihren Humor. Verdammt. Heiß, witzig und smart. Eine geradezu gefährliche Kombination, die mich schwach macht. »Okay, das stimmt. Sie war aber auch eine schöne Frau. Es ist seltsam, dass der Todesfall bis heute nicht aufgeklärt ist.«
»Allerdings. Irgendwie kann man das nicht so ganz glauben, finde ich. Bei einem Promi sollte es doch gesteigertes Interesse geben, was natürlich auch falsch ist, schließlich sollte jedes Menschenleben gleich viel wert sein, aber es ist trotzdem so, dass die Öffentlichkeit so einen Tod stärker beachtet.«
»Natürlich, aber 1981 gab es nicht dieselben technischen Möglichkeiten. Vielleicht hätte man heute noch Fasern oder Rückstände finden können, die damals nicht erfassbar waren.«
»Ich stell es mir gerade für die Familie so schlimm vor, wenn man keinen richtigen Abschluss hat. Wenn man nicht weiß, was passiert ist.«
Sie hat Backbleche aus dem Ofen geholt, und ich verteile die Pommes auf diesen. »Wobei die Familie, bis auf ihre Schwester, glaub ich, an der offiziellen Version vom Unfall festhält. Also vielleicht haben sie für sich ja ein Ende gefunden.«
»Hm, das kann natürlich sein. Aber ich finde das unbefriedigend.«
»Versteh ich, würde mir auch so gehen. Wobei man bedenken muss, dass es einen auch ganz schön aufreiben kann, wenn man Jahrzehnte lang kein Ergebnis hat. Daher ist man vielleicht bereit, irgendwas zu glauben, weil es einen sonst kaputtmacht.«
Sie fragt mich nach meinem Getränkewunsch, bevor sie mich ins Wohnzimmer führt.
»Okay, jetzt ist es offiziell. Nicht nur ich sehe aus wie ein Schlumpf, auch mein Haus tut es. Sorry!«
»Alles gut. Und du siehst gar nicht aus wie ein Schlumpf. Bist ja nicht blau.« Sie ist einfach nur die hübscheste und bezauberndste Frau, der ich je begegnet bin.
Ich setze mich zu ihr auf die Couch, denke, dass es noch nie so leicht war, mit einer Frau zu sprechen, und spüre ganz tief in mir, dass dies der Anfang von unserem Happyend ist. Liebe auf den ersten Blick habe ich bisher für unmöglich gehalten, aber natürlich muss mich das Schicksal eines Besseren belehren … Könnte ja nicht anders sein.
Danke, Schicksal, denke ich, bevor ich es mir auf der Couch mit Orla bequem mache. Zauberhaft. Nicht nur ihr Name. Auch sie.
