Bonusszene Sally & Jakob (Alaska 7)

Sally

Fünf Jahre später

Perceival sitzt auf meiner Schulter, während ich über die Main Street laufe. Ich halte an jedem Haus, betrachte es, frage mich, welches Potenzial es hat, was saniert und renoviert werden muss.

Jedes Mal, wenn ich stoppe, ruft der Vogel: »Arschloch! Wichser!«

Dasselbe passiert, sobald uns jemand entgegen kommt. Anfangs war mir das peinlich, aber die Einwohner von Whynot haben sich daran gewöhnt. Mittlerweile fragen sie mich, wo denn mein Holzbein ist …

»Morgen, Bürgermeisterin«, sagt eine bekannte Stimme, und dann schlingt jemand seinen Arm um mich.

Perceival nutzt die Chance, von meiner auf seine Schulter zu krabbeln. Kleiner Verräter.

»Hey, Jake.« Und ich befürchte, dass ich auch nach fünf Jahren immer noch strahle wie ein Groupie, wenn ich ihn sehe.

»Was tust du?« Er streicht dem Papagei über den Kopf, der sich aufplustert, wie immer, wenn ihm etwas ganz besonders gut gefällt.

»Whynot ist als Filmkulisse gefragt. Wir haben eine neue Anfrage bekommen.«

»Lass mich raten. Für einen Weihnachtsfilm.«

»Woher weißt du das?«, scherze ich, denn ja, es ist schon beinahe absurd, wie viele Produktionsfirmen ihre Weihnachtsfilme hier drehen wollen. Sie alle sind dem Charme der Stadt erlegen.

Es wurden bereits fünf solcher Filme hier gedreht. Man sollte meinen, dass bereits alle Ecken und Flecken Whynots abgelichtet wurden, aber die Anfragen strömen weiterhin herein.

»Man sollte doch meinen, dass es noch andere Kleinstädte in Amerika gibt.«

Langsam laufen wir weiter. »Aber keine ist wie unsere.«

Und das glaube ich wirklich. Welche Stadt kann schon behaupten, eine waschechte Fehde zu haben, die sich seit den Goldrausch-Zeiten nicht abgekühlt hat? Wo gibt es nicht nur die besten Zimtröllchen der Welt, sondern auch die besten Apple-Pie-Pancakes, noch dazu lokale Berühmtheiten, die vor Skurrilität strotzen?

Wenn ich darüber nachdenke, dass ich anfangs gar nicht zurückkommen wollte, und wie stolz ich jetzt auf diese Stadt bin, dann muss man wohl sagen, dass das Schicksal einen merkwürdigen Sinn für Humor hat.

»Was hältst du davon, wenn du jetzt Mittagspause machst?«

»Davon halte ich sehr viel.«

Jakob grinst mich an. »Grilled Cheese?«

»Fantastisch!«

Wir schlagen den Weg zu dem kleinen Restaurant ein, das vor ein paar Jahren geöffnet hat. So lange ist die Zeit hier stehengeblieben, aber in den letzten Jahren hat sich durch die ganze Filmgeschichte einiges geändert.

Nicht nur, dass die Stadt aufgeblüht ist – und mit ihr die Bewohner! –, nein, es gab auch Entwicklungen, die ich als Bürgermeisterin nur begrüßen kann. Unter anderem dieses kleine Restaurant, dass Megan eröffnet hat.

Irgendwann hatte sie mir gestanden, dass das ihr großer Traum war, und natürlich habe ich mich bemüht, ihr unter die Arme zu greifen. Schließlich ist es das, was ich tue.

Ich mache Träume wahr.

Das hat One-Eye-Molly auf einer der letzen Stadtversammlungen gesagt, und ich halte das für ein Kompliment aller erster Güte. Es hat mich wirklich sehr gerührt, dass ich offensichtlich einen positiven Einfluss auf die Stadt und ihre Bewohner habe. Ganz besonders auf Molly, die mittlerweile ein kleiner Filmstar geworden ist. In jeder Produktion, die hier gedreht wurde, hat sie mitgespielt. Da es meine Aufgabe ist, so was zu wissen, ist mir nicht entgangen, dass sie eine Million Follower auf Social Media hat. Das ist Starpower.

»Hey, wenn das nicht Whynots Powerpärchen ist«, begrüßt uns Megan lächelnd, bevor sie uns einem Tisch zuweist.

Ein paar Augenblicke später kommt sie mit Wasser und ein paar Nüssen für Perceival wieder, der sich vor Freude kaum noch einkriegen kann.

»Penner! Scheiße!«

Sie grinst. »Dieser komische Vogel passt haargenau nach Whynot.«

Ich nicke. »Schicksal.«

»Aber wirklich.« Dann sieht sie uns fragend an. »Was kann ich euch bringen?«

»Ich nehme, überraschender Weise, das Grilled-Cheese-Sandwich und die Tomatensuppe.«

»Wirklich überraschend«, scherzt Megan.

Okay, vielleicht muss ich nicht unbedingt viermal die Woche dasselbe essen, aber wenn es doch das Beste auf der Speisekarte ist? Dann kann man das schon mal machen.

»Und du?«, fragt sie Jakob.

»Auch wenig überraschend nehm ich das Tagesgericht.«

»Ihr seid meine leichteste Kundschaft.«

»So soll es sein.« Jakob lächelt sie an, bevor er nach meiner Hand greift.

»Hey«, flüstere ich verliebt.

»Hey, Mrs. Brookner.« Er streicht über den Finger, an dem der Verlobungsring und der Ehering prangen.

Ich grinse. »Hört sich gar nicht so schlecht an, was?«

»Hört sich ziemlich spektakulär an. Bürgermeisterin Wild Sally Brookner.«

»Ich versuch, dem Namen jeden Tag gerecht zu werden. Also dem Wild.«

Er grinst mich an. »Kann es sein, dass ich da ein paar Kratzspuren auf dem Rücken hab?«

»Ups.«

»Ich beschwer mich nicht.« Dann seufzt er. »Bekomm ich eine Erlaubnis, die Praxis zu erweitern?«

»Schon wieder?«, frage ich.

Er zuckt mit den Schultern. »Der neue Reichtum sorgt offensichtlich dafür, dass viel mehr Menschen gesund sein wollen.«

»Hast du mich deswegen zum Essen eingeladen? Um mich zu bestechen?«

»Vielleicht. Funktioniert’s?«

Ich wiege den Kopf hin und her. »Hast du noch mal über den Heiße-Kerle-Kalender nachgedacht?«

»Hab meine Meinung nicht geändert.«

»Mist.«

Er lacht auf. »Aber du könntest doch einen Kalender von all den heißen Schauspielern erstellen, die in den letzten Jahren schon in der Stadt waren.«

»Das ist eine gute Idee …«

»Ich kann die Dollarzeichen in deinen Augen sehen.«

»Hey, meinetwegen trägt Eric einen neuen Jogginganzug.« Selbst unser Eremit ist damals nicht gegen Elspeth Moore angekommen, als sie in einem Schneeballsystem Sportklamotten an Whynotter verkauft hat.

»Das ist wirklich eine grandiose Errungenschaft.«

»Siehst du? So bin ich.«

»Also, kann ich die Praxis erweitern?«

»Wohin denn? Ich mein, dein Haus ist voll.« Als ich nach Whynot gekommen bin, hatte Jakob nur die untere Etage des Hauses genutzt, mittlerweile ist das Obergeschoss auch mit Behandlungsräumen gefüllt, und in der Garage hat er ein Röntgengerät stehen. Das war übrigens auch ein Aufwand …

»Ich dachte, ich könnte das Nachbarhaus kaufen.«

»Will denn der alte O’Toole verkaufen?«

»Man munkelt, dass er nun doch zu seinen Kindern nach Florida ziehen will.«

»Hm.«

»Was?«

»Ich überleg nur, was die beste Nutzungsmöglichkeit für dieses Filetgrundstück ist.«

Er funkelt mich an. »Ein Krankenhaus.«

Ich lache auf. »Hey, ich kann dich nicht bevorzugen, nur, weil wir verheiratet sind.«

»Doch, genauso läuft das zwischen uns. Deswegen musst du auch nie auf deine Grippeimpfung warten.«

Ich drücke seine Finger. »Also … ein Krankenhaus. Nicht nur eine Erweiterung der Praxis.«

»Man kann es durchaus als Erweiterung ansehen.«

»Ein Krankenhaus … Das ist eigentlich eine gute Idee.«

»Ja? Ich hab auch überlegt, noch einen weiteren Arzt einzustellen.« Vor einem Jahr hat er einen Sportarzt aus Wasilla angeheuert, mit dem die Alaskan Lodge jetzt wirbt, auch wenn es gar nicht ihr Arzt ist, sondern Jakobs. Die Campbells nehmen sich wirklich immer, was sie wollen …

»Welches Spezialgebiet?«

»Ich dachte an einen Allgemeinchirurgen. Dann könnten wir viele der Unfälle, für die wir Patienten nach Anchorage schicken, hier behandeln.«

»Meinst du, Lincoln wird darüber so glücklich sein, wenn er seine medizinischen Transportflüge verliert?«

»Wir würden ja nur Kleinigkeiten machen. Für große und Spezialuntersuchungen müssen die Leute auch weiterhin in die Stadt.«

»Lass mich drüber nachdenken.«

»Bessere medizinische Betreuung könnte ein Plus für die Filmleute sein …«

»Es ist gemein, dass du weißt, wie du mich manipulieren kannst.«

Er hebt die Hände. »Fein, denk drüber nach, und komm zu deinem eigenen Schluss, dass es grandios für die Stadt wäre, wenn es ein Krankenhaus in Whynot gäbe.«

»Wäre schon gut …«, gebe ich zu.

»Arschloch!«

»Wer jetzt?«, frage ich Perceival. »Er oder ich?«

»Wichser!«

Jakob streicht über seine Flügel. »Ich wette, er meint dich.«

»Boah, unmöglich!«

»Katie hat übrigens gesagt, dass ich weiterhin ihre Fluchbank führen soll, solange sie mit Hudson auf Tour ist.« Es war Katies größter Wunsch, einmal mit ihrem Onkel auf eine Schlittenhundefahrt zu gehen. Also, auf eine für mehrere Tage.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das für eine gute Idee halte, schließlich sind sie da in der Einöde, aber sie haben wenigstens ein Satellitentelefon und Lincoln und Peyton auf Kurzwahl, die sie überall retten würden.

»O nein. Dieses Kind raubt uns aus.«

»Sei froh, dass sie die Kosten noch nicht erhöht hat.«

»Wie will sie das rechtfertigen?«

»Mit dem gesteigerten sozioökonomischen Status der Stadt …«, er lacht auf, und ich weiß, dass sie das tatsächlich so gesagt hat. Dieses Mädchen ist richtig schlau. Irgendwann wird sie mal … na ja, im Grunde kann sie sich nach der Highschool wahrscheinlich direkt zur Ruhe setzen, so viel, wie in Whynot geflucht wird.

»Vermisst du sie auch schon?«

»Tu ich.«

»Hast du drüber nachgedacht, ob wir sie doch aufs Internat schicken wollen?«, frage ich.

Katie wünscht sich das, weil sie so viele Internatsgeschichten gelesen hat und deswegen eine romantische Vorstellung hat. Aber es fällt uns beiden schwer, sie gehen zu lassen. Vor allem, weil wir aus eigener Erfahrung wissen, dass das nicht immer alles so toll ist, wie man sich das denkt.

Momentan fliegen Lincoln und Peyton sie jeden Morgen nach Anchorage, aber auf Dauer ist das kein Zustand. Immerhin muss sie noch jahrelang hingehen.

»Puh … Kannst du keine Highschool hier gründen?«

Ich zucke mit den Schultern. »Es gibt nicht genug Kinder für eine eigene Schule. Selbst mit all den Zuzügen.« Durch all die Filme und unsere Serie Mein Traum von Alaska ist Whynot in aller Munde. Jedes Jahr bekommen wir zwei, drei Einwohner mehr.

»Aber du bist die Bürgermeisterin.«

»Ich will auch nicht, dass sie die ganze Woche weg ist.«

Er nickt. »Gut, dann lass dir eine Lösung einfallen.«

»Ich denk drüber nach.«

»Aber wirklich.«

»Ich mach nichts anderes, als nachdenken.«

Megan kommt mit unserem Essen. »Guten Appetit. Und Sally, falls du Zeit hast, würde ich gern mal mit dir sprechen. Das Essen geht aufs Haus.«

»Nein, nein«, meint Jakob sofort. »Da musst du dich hinten anstellen. Das ist mein Bestechungsessen.«

»Glaub mir, Kleiner, wenn ich dein Geld nicht will, nehm ich es auch nicht.«

»Du kannst nicht verhindern, dass ich es einfach hier durchs Restaurant werfe.«

»Dann schmeiß ich es dir durch den Briefschlitz in die Praxis.«

»Hey, hey, hört auf, das Gerücht zu verbreiten, dass die Bürgermeisterin bestechlich ist«, unterbreche ich sie.

Sie beide schauen mich an, als hätten sie einen Geist gesehen.

Ich seufze. »Okay, fein, Essen ist der richtige Weg.«

Jakob grinst, bevor er seine Spaghetti aufdreht. »Bist eben ein Kind der Stadt.«

Und das bin ich wirklich.

Nach dem Essen – und einem kleinen Plausch mit Megan, weil sie im Sommer gern einen Außenbereich des Restaurants einrichten will – schlendern wir noch eine Weile durch die Stadt. Es ist wirklich erstaunlich. Es ist irgendwie noch alles genauso, wie es damals war, nur dass es ein Upgrade gegeben hat.

Jetzt sind nicht nur auf der Campbell-Seite Blumenkästen, sondern auch auf der Moore-Seite. Nicht nur, die Campbell-Seite hat neue Anstriche, auch die Moore-Seite.

Mein Herz könnte nicht froher sein. Wirklich nicht. Außer vielleicht … Ich lege meine Hand auf den Bauch.

Als Jakob meine Geste sieht, lächelt er versonnen.

Ja, bald wird unser Glück vollkommen perfekt sein …

Die gesamte Alaska-Reihe findest du hier.