Leseprobe: Tausend falsche Schritte

Mein neuer Roman Tausend falsche Schritte ist da! Es ist ein abgeschlossener Roman ohne Cliffhanger und man braucht keinerlei Vorkenntnisse. Ich wünsche euch viel Spaß mit der sehr emotionalen Story von Carly und Kit.

Und hier hab ich das erste Kapitel für dich. Viel Spaß beim Lesen!

Kapitel 1

Ich bin eine Lügnerin. Dieser Satz schießt mir durch den Kopf, als ich meine Stieftochter Aubrey sehe, die ihre Halbschwester, meine Tochter Lily, im Arm hält und die lustigsten Laute macht. Sie lächelt und lacht und sieht so glücklich aus. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass dieser zickige Teenager doch die Kurve bekommt und ein normaler Mensch wird. Okay, normal ist vielleicht der falsche Ausdruck. Zum einen, was ist schon normal? Zum anderen kann man sie kaum als normal bezeichnen, aber sie ist anders. Heute jedoch in einem sehr viel positiveren Sinn als noch vor ein paar Monaten. Ich hätte niemals gedacht, dass ich einmal so in die Bredouille geraten würde.

Das Problem ist, ich mag sie.

Und damit einher geht das schlechte Gewissen.

Mein schlechtes Gewissen.

Als sie mir damals eine Art Neuanfang vorschlug, habe ich nur zugestimmt, weil ich ans Geld wollte, aber mit der Zeit ist sie mir ans Herz gewachsen. Je mehr wir miteinander gemacht haben, desto mehr habe ich sie lieben gelernt. Vollkommen verrückt eigentlich.

»Sie ist so niedlich«, meint Aubrey und schaut zu mir.

Ich nicke abwesend. Lily ist wirklich niedlich. Sie ist das Beste, was ich je zustande bekommen habe. Das einzig Wahre im Meer der Lügen.

Manchmal frage ich mich, was hinter den Kulissen von anderen Menschen vorgeht. Verheddern sie sich auch in Lügengebilden oder sagen sie immer die Wahrheit? Ich kann mir das nicht vorstellen.

Die meisten Lügen werden aus egoistischen Gründen erzählt, aber manche auch nicht. Wenn mich mein verstorbener Mann gefragt hat, ob ich ihn sexy finde, habe ich ja gesagt. Es macht mich zu einer gemeinen Hexe, wenn ich jetzt sage, dass es gar nicht stimmte. Aber ich wollte ihn nicht verletzen.

Vielleicht ist aber auch das gar nicht wahr.

Vielleicht habe ich es nur gesagt, weil ich befürchtete, er würde mir das Geld wegnehmen. Mein Schwur von damals hat sich ein klein wenig geändert. Es ist hart, selbst reich zu werden, aber es ist so einfach, reich zu heiraten.

Und das ist meine Lüge. Ich habe behauptet, meinen verstorbenen Mann, Aubreys Vater, zu lieben, und war immer entrüstet, wenn sie mich als Goldgräberin bezeichnet hat. Meine Lügen sind so gut geworden – oder vielleicht doch eher ich als Lügnerin? -, dass Aubrey sie mir schlussendlich abgenommen hat.

Ist das ein Grund für Scham oder für Stolz?

Es wäre so viel einfacher, wenn ich sie hassen würde. Dann hätte ich sie verklagen können, hätte vielleicht noch etwas aus dem Erbe von Ken bekommen und hätte sie nie wieder sehen müssen. Aber nein, sie sehnt sich natürlich nach ihrer Schwester. Halbschwester. Aber wenn ich sie so ansehe, haben die vier Buchstaben gar keine Bedeutung.

Gott, wie sehr wünschte ich mir, dass sie noch das verzogene Miststück von früher wäre.

Dann müsste ich jetzt nicht lächeln, nicht so tun, als wäre ich ein netter Mensch. Würde sie nicht mögen, verdammt. Wenn man Menschen mag, lässt man sie zu nah an sich ran. Und dann braucht man wirklich ein gutes Gedächtnis, damit man nicht dreimal verschiedene Versionen der Wahrheit erzählt.

»Carly.«

Ich schaue auf, als ich meinen Namen höre. »Ja?«

Sie lächelt mich vertrauensselig an. »Ich hatte gefragt, ob du alles hast. Brauchst du irgendwas? Hat Lily alles?«

Solche Fragen von Ken waren mir immer die liebsten gewesen. Denn dann konnte ich sagen, ich bräuchte unbedingt ein neues Diamant-Collier. Unbedingt.

»Wir haben alles, danke.«

Wieso sage ich so einen Unsinn? Es wäre so leicht, ihr Geld aus der Tasche zu ziehen, denn Aubrey ist nichts, wenn nicht großzügig. Und es ist auch nicht so, dass ich keine Wünsche mehr habe. Ein neues Bett wäre echt toll. Jetzt, wo ich alleine darin schlafe, stört mich die Kuhle, die Ken hinterlassen hat. Ich rolle immer hinein, was ich nicht leiden kann. Aber Aubrey darum zu bitten, fühlt sich nicht richtig an. Kein bisschen.

Ich wünschte echt, ich würde sie hassen. Dann könnte ich an mich denken, nur an mich. Und an Lily natürlich auch. Aber hauptsächlich an mich.

»Aber wenn du irgendwas brauchst, sag Bescheid, okay? Versprochen?«

Dass sie tatsächlich glaubt, man müsste mich dazu überreden, vom Geld anderer zu leben, zeigt, was für eine großartige Lügnerin ich bin. Jeder hat sein Talent. Dies ist meins.

Aber immer öfter meldet sich so eine kleine Stimme zu Wort. Manchmal wünschte ich, ich könnte einfach die Wahrheit sagen. Ihr alles sagen, ihr alles … beichten. Komisches Wort.

Ich tue es nicht, denn ich will keine Verachtung, keine Enttäuschung, nichts Negatives in ihrem Gesicht sehen. Wenn ich sie nicht mögen würde, wäre es mir egal. Wie kann man nur so dumm sein und Gefühle für andere Menschen entwickeln? Gerade ich sollte es doch wissen, schließlich habe ich diese Lektion schon früh gelernt.

»Ist irgendwas?«

»Was soll denn sein?«

Aubrey zuckt mit den Schultern. »Du wirkst so abgelenkt. Als würde dir viel im Kopf herumgehen.«

»Ach, was. Mir geht nie viel im Kopf herum.« Sich dümmer stellen, als man eigentlich ist, ist auch eine Taktik, wie man sich einen reichen Mann angelt. Scheinbar geht ein solches Verhalten auch ins Blut über und man macht es immer.

»Hör mal, wenn du sauer bist, weil ich noch nicht dazu gekommen bin, Lilys Treuhandfonds einzurichten, dann tut es mir leid. Wirklich.«

Natürlich bezieht sie es auf sich. Das zeigt mal wieder, was sie für ein Mensch ist und auch, was ich für einer bin. Aubrey hat die ganze Schuld für unser angeknacktes Verhältnis auf sich genommen, aber eigentlich war es nicht ihre Schuld. Sie war das Kind, ich war die Erwachsene. Ich hätte mich bemühen müssen, hätte immer wieder auf sie zugehen müssen. Stattdessen war es mir wichtiger, Kens Geld auszugeben. Ich war zwanzig. Das soll keine Entschuldigung sein, aber so war es eben. Ich war zwanzig, hatte zum ersten Mal Zugang zu richtig viel Geld und bin ihm verfallen. Neue Brüste, neue Lippen, eine neue Nase, Handtaschen, Trips nach Mailand zum Shoppen … Ich habe so viele Möglichkeiten gefunden, sein Geld auszugeben. Mir wird heute noch schwindelig.

Brauchte ich das alles? Wahrscheinlich nicht. Aber ich wollte es haben. Und das war mir damals wichtiger.

Hätte ich gewusst, dass man zehn Jahre später ein schlechtes Gewissen bekommen kann, hätte ich damals vielleicht anders gehandelt. Oder auch nicht. Mit zwanzig fehlen einem die entscheidenden Gehirnzellen. Mit zwanzig kann man gar keine vernünftigen Entscheidungen treffen. Das ist wie in der Pubertät. Die Synapsen funktionieren einfach nicht richtig. Zumindest war das bei mir so und bei Aubrey ebenfalls. Ich bete dafür, dass es Lily anders ergehen wird.

»Sag doch was. Ich hab dir Geld überwiesen, damit du genug für Lily hast. Ich mach es diese Woche. Versprochen.«

Ich schließe kurz die Augen, weil ich es nicht ertragen kann, wie sie sich selbst geißelt. Und ich hasse mich ein klein wenig mehr, weil ich es zulasse.

Ich beuge mich vor, schaue sie beruhigend lächelnd an. »Wir haben mehr als genug, mach dir keine Gedanken. Es liegt nicht an dir. Kein bisschen.«

Sie sieht mich erleichtert an. Und in diesem Ausdruck erkenne ich das kleine Mädchen, das seine Mum verloren hatte und sich nur ein bisschen nach Liebe gesehnt hat. Liebe, die sie nicht bekommen hat. Ja, ihr Vater hat sie geliebt, aber er hat sie ihr nicht genug gezeigt, sondern fand es leichter, sich nach dem Tod seiner Frau in die Arbeit zu stürzen. Ihr Onkel und ihre Tante haben viel zu schnell aufgegeben. Und ich auch. Ich hatte gedacht, es wäre leicht, aber eine traumatisierte Sechzehnjährige, die bereits seit zwei Jahren in ihrem eigenen Albtraum gefangen war, ist eben nicht mit drei netten Worten zu überzeugen. Ich hätte mir Mühe geben müssen, aber vielleicht hätte auch das nicht gereicht, denn mit zwanzig war ich selbst einfach überfordert. Aber das Gute am Leben ist, manchmal bekommt man eine neue Chance.

Daher stehe ich jetzt auf, setze mich neben sie und lege meine Hand auf ihre. »Du schuldest uns nichts.«

Ihr Gesichtsausdruck verhärtet sich. Verdammt. Falsche Worte, Carly, falsche Worte.

»Nein, so meine ich das nicht. Ich bin froh, dass du da bist, dass du mir hilfst, dass du Lily so sehr liebst, aber wir sind nicht deine Verantwortung. Du hast schon viel zu viel auf deinem Teller liegen. Dein Dad hat uns großzügig bedacht.« Wenn ich ehrlich bin, stimmt das auch. »Es geht uns gut. Wirklich. Wir freuen uns, dass du deine Zeit mit uns verbringst, aber es geht dabei nicht ums Geld. Verstehst du? Wir … na ja, ich … ich hab dich lieb. Irgendwie.«

Als ich sehe, wie ihr die Tränen in die Augen steigen, hasse ich mich selbst ein wenig mehr. Wenn so ein paar Worte sie zum Weinen bringen, wie ausgehungert muss sie dann nach Liebe und netten Worten sein? Oder sind es nette Worte von einer Mutterfigur? Kann man überhaupt eine Mutterfigur sein, wenn man nur vier Jahre älter ist?

»Ich hab dich auch lieb.«

Und nach diesen Worten sitzen wir eine Weile nebeneinander und beobachten Lily, die mit ihren sieben Monaten schon das intelligenteste Baby ist, das es je gegeben hat. Ist ja wohl klar.

* * *

Ein Tag folgt dem anderen und mir ist langweilig. Klar, Lily erfordert viel Zeit, aber sie ist echt ein liebes Baby. Ich hatte mehr Weinen und Schreien erwartet. Toi toi toi. Schnell auf Holz klopfen. Ich will mich ganz sicher nicht beschweren, überhaupt nicht. Ich bin froh darüber. Viel Erfahrung hatte ich zwar nicht mit kleinen Menschen, aber was man aus Filmen und Serien kennt, ist doch eher … nun ja … lauter.

Aber Lily schaut in die Luft, untersucht ihre Finger und beginnt schon langsam, sich hochzuziehen. Ich weiß, dass Ken immer gesagt hat, dass Aubrey bereits mit zehn Monaten laufen konnte. Und natürlich wird Lily das früher können. Und wenn ich es einfach erzähle.

Abgesehen von der Zeit, in der ich mich mit Lily beschäftige, ist mir langweilig.

Was habe ich denn früher gemacht?

Wenn ich ehrlich bin – nichts. Bevor ich Ken geheiratet habe, hatte ich einen Freund, der mich ebenfalls ausgehalten hat. Obwohl das ja ein böses Wort ist. Ich bevorzuge ja eher so etwas wie: Sie haben mich so sehr geliebt, dass sie mich gerne unterstützt haben. Die Wahrheit ist, ich habe noch nicht viel gearbeitet. Als Teenager, als ich noch dachte, ich würde aus eigener Kraft reich werden, habe ich es versucht, aber hochbezahlte Jobs bekommen ungelernte Mädchen eher selten. Schnell habe ich herausgefunden, dass Reichwerden durch bereits reiche Männer die deutlich leichtere Variante ist.

Was habe ich gemacht? Geshoppt, hauptsächlich. Gott, wenn ich das so bedenke, habe ich nichts geleistet. Wie konnte ich überhaupt jemals auf Aubrey herabsehen?

Aber ich muss etwas machen. Es geht nicht anders, sonst fällt mir die Decke auf den Kopf.

Ich drehe mich auf die Seite, ziehe meinen Laptop heran, während ich versuche, die Kuhle zu vermeiden, die in der Matratze ist. Da habe ich schon so ein großes Bett und kann doch nur auf einer Seite schlafen. Unfassbar.

Als erstes surfe ich durch Pinterest, aber irgendwie macht es keinen Spaß, wenn man gar nichts kaufen will. Früher hat mich das nicht abgehalten. Lenkt Shopping von Einsamkeit ab?

Dieser Gedanke frisst sich fest. War ich einsam? Bin ich einsam?

Mein Handy klingelt und ich schaue auf das Display, bevor ich das Gespräch annehme.

»Hey«, sage ich fröhlich. Das ist genau die Aufmunterung, die ich brauche.

»Selber hey. Wie ist das Leben als Witwe?«, fragt meine beste Freundin. Vielleicht ist sie auch meine einzige. Das werde ich aber weder bestätigen noch abstreiten.

»Ich jette von Mailand nach Paris und von Rom nach Kopenhagen.«

»Und wirklich?«

Ich greife in die Schachtel Pralinen, die auf dem Nachttisch steht. Tückisch, wirklich. Jedes Gramm Schokolade setzt sofort an meinem Hintern an. »Ich esse Schokolade, liege im Bett und frage mich, was ich mit meinem Leben anstellen soll.«

»Du bist gerade Mum geworden. Gib dir da doch mal ein bisschen Credit für.«

»Ich weiß, aber das kann doch nicht alles sein.«

»Vorher hat es dir doch auch gereicht, Ehefrau zu sein.«

Ich drehe mich auf den Rücken und falle dabei in die Kuhle. Als ich mich wieder herausgekämpft habe, sage ich: »Irgendwie war das anders.«

»Inwiefern?«

»Keine Ahnung. Ich war knackig und jung.«

Corey lacht. »Du bist immer noch knackig und jung. Wie man nach einer Geburt so aussehen kann, weiß ich nicht.«

»Du hast gut reden. An dir ist kein Gramm Fett, du hast Beine, die bis in den Himmel reichen und Brüste … okay, ich will nicht vulgär werden.«

»Du hast selbst vulgäre Brüste.«

Ich schaue auf die Zwillinge, die Ken mir spendiert hat. »Ja, aber deine sind echt.«

Corey schnaubt. »Ja, und? Gekauft, echt, gemietet? Was spielt das für eine Rolle? Hauptsache man hat sie.«

»Warte. Man kann Brüste mieten?«

»Ich hab letztens in einem Klatschblatt gelesen, dass irgendein Millionär sich von seiner Freundin getrennt hat und sie dazu gezwungen hat, die Brüste abzubezahlen.«

»Und das hat sie getan?«

»Offensichtlich hatten sie einen Vertrag.«

»Was für ein Arsch schreibt so was in einen Vertrag?«

»Menschen. Ich kann sie auch nicht leiden.«

Corey ist Model. Ein echtes Supermodel, das in New York und Mailand über den Laufsteg läuft. Wenn ich sie nicht lieben würde, würde ich sie für ihre Perfektion hassen.

»Da war Ken großzügiger.«

Corey ist einen Moment still. Wie immer, wenn das Thema auf Ken kommt. Dann sagt sie: »Ken war ja auch einer von den Guten.«

Ich habe mich schon öfter gefragt, warum sie immer eine kleine Pause einlegt, wenn ich anfange, von ihm zu reden. Ist sie vielleicht eifersüchtig, weil ich mir einen reichen und guten Mann geangelt habe? Dabei liegen ihr die Männer scharenweise zu Füßen. Wir Normalsterbliche müssen uns mit den Normalos begnügen, während sie die Leonardo di Caprios der Welt verführt.

»Das war er.«

»Weswegen ich anrufe. Ich bin nächste Woche in London. Kann ich dich sehen?«

»Aber natürlich!«

»Wir sollten mal wieder so richtig feiern gehen, wie in alten Zeiten.«

Ich bin plötzlich voller freudiger Erwartung. »Das wäre toll.«

»Kannst du Lily bei einem Babysitter abgeben?«

»Aubrey passt bestimmt auf sie auf.«

»Der vertraust du dein Baby an?« In ihrem Tonfall liegt so viel Ablehnung, dass ich einen Moment geschockt bin. Soll ich Aubrey verteidigen? Corey recht geben?

»Sie ist ihre Schwester«, sage ich dann lahm.

»Das mag sein, aber nur, weil man verwandt ist, heißt das nicht, dass man auch gut füreinander ist. Du solltest das wissen.«

Da ich über dieses Thema ganz sicher nicht reden will, versuche ich das Thema zu wechseln: »Dann finde ich eben jemand anderen. Warum bist du eigentlich in London? Es ist doch gar nicht Fashion Week?«

»Ich hab ein Shooting für eines der großen englischen Magazine. Aktuelle Mode, britisch interpretiert. Weißt du? Mit Trent Walters.«

»Nie von gehört.«

Sie lacht. »Doch, bestimmt. Aber du warst ein wenig weg vom Fenster. Seine Popularität als Designer ist in diesem Jahr regelrecht explodiert. Hey, komm doch mal am Set vorbei und ich stelle dich vor. Du musst mal wieder unter Menschen gehen.«

»Und mit Menschen meinst du Männer?«

»Ganz genau.«

»Ich weiß nicht.«

»Ach, komm! Das wird lustig. Du warst schon lange nicht mehr bei einem Job dabei. Ich fänd’s toll.«

Niemand sagt nein zu Corey Vanderly. Niemand. Schon gar nicht ihre beste Freundin. Und wer weiß, vielleicht wird es ja ganz witzig?

Nachdem wir aufgelegt haben, wird mir bewusst, dass eine Partynacht genau die richtige Ablenkung wäre. Vielleicht sollte ich doch wieder mehr unter Leute gehen, statt mich zu Hause einzuschließen und ruhige Abende mit Lily zu genießen.

Ich schreibe Aubrey eine Nachricht, ob sie nächste Woche abends Babysitten kann. Zurück kommt: »O lá lá. Es wird Zeit, dass du wieder mal was nur für dich tust. Ich bin jederzeit für dich da.« Und nach diesen Worten fühle ich mich noch mieser, weil ich Aubrey nicht verteidigt habe. Menschen können sich ändern. Das habe ich an ihr gesehen. Und wenn sie das kann, dann kann ich das vielleicht auch. Nötig hätte ich es.

* * *

Ich laufe durch den Belgrave Square Garden, schiebe Lily in ihrem Kinderwagen vor mir her. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint, Menschen lachen, Kinder laufen herum. Es könnte ein perfekter Tag sein. Für alle um mich herum ist er das wahrscheinlich auch, nur für mich nicht. Ich langweile mich. Ich kenne jeden einzelnen Weg in diesem kleinen Park wie meine Westentasche. Nicht, dass ich Westen tragen würde, aber genau so stelle ich mir das vor. Ich kenne jeden Baum mit all seinen Ästen. Ich könnte sie beim Vornamen nennen, wenn sie welche hätten. Jede Blume, jeder Grashalm. Da, die Libelle fliegt hier jeden Tag herum. Sie heißt Tony.

»Hi, schöne Frau. Sie habe ich doch schon öfter hier gesehen.« Ich bleibe abrupt stehen, als ich diese Worte höre, und schaue zu dem Mann, der plötzlich neben mir läuft. Wo kommt der denn plötzlich her? Ich habe ihn jedenfalls nicht kommen sehen.

»Ich bin Jeremy.« Er hält mir die Hand hin. »Und wie heißen Sie?«

Er sieht gut aus, auf diese ein bisschen abgewetzte Art. Also ganz eindeutig kein gutsituierter Mensch. Und damit besitzt er keinerlei Potential für meinen nächsten Mann.

»Kein Interesse.«

Er lacht. »Zugegeben, ein ungewöhnlicher Name, aber wer bin ich denn, darüber zu spotten? Kann ich Sie auf einen Kaffee einladen?«

»Hey, wenn eine Frau sagt, dass sie kein Interesse hat, heißt das nicht, dass du dich nur mehr ins Zeug legen musst.« So jemand hat keine Höflichkeitsform verdient.

Er grinst. »Oh, Schätzchen, du weißt ja gar nicht, bei wie vielen Frauen ein Nein eigentlich ja heißt.«

»Das ist widerlich. Und du bist es auch. Verschwinde.«

»Hältst dich wohl für was Besseres, was?«

Ich lasse meinen Blick von oben nach unten wandern. »Ja, eindeutig.«

Er kommt einen Schritt auf mich zu, wirkt plötzlich so viel bedrohlicher als noch vor einem Moment. Ich weiche zurück, was nicht so einfach ist mit einem Kinderwagen. Vor allem, wenn man gleichzeitig versucht, sich vor dem eigenen Kind zu positionieren, auch wenn einem die Angst durch die Glieder schwappt. Wieso musste ich auch so eine große Klappe haben? Gerade ich sollte doch wissen, dass Männer gefährlich werden können. Wenn man sie nicht kennt, sollte man sich lieber zurückhaltend zeigen, ansonsten kann das böse enden.

»Du bist nichts weiter als eine dumme Schlampe, die sich freuen könnte, wenn sie mal gefickt wird. Bei dem Arsch.«

»Entschuldigung«, murmele ich und versuche, von ihm wegzukommen.

Er läuft mir hinterher. »So was wie dich würde ich nicht mal mit der Kneifzange anfassen.«

Bloß weg hier. So schnell wie möglich. Und wenn er mich tatsächlich schon öfter hier gesehen hat, werde ich nie wieder in diesen Park kommen.

Ich ziehe den Kopf ein, lasse seine Beleidigungen über mich ergehen und eile davon. Irgendwann macht es ihm wohl keinen Spaß mehr, denn es wird still. Ich drehe mich um und sehe, dass er in die andere Richtung wegläuft. Glück gehabt. Aber was ich dann sehe, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Lauter Männer, die sich das Schauspiel angesehen und nichts getan haben. Sie haben einfach zugesehen, wie er mich beleidigt hat, wie er mir hinterher kam. Keiner hat etwas gesagt. Keiner ist für mich eingestanden. Manche sind Familienväter. Ich sehe ihre Frauen, ihre Kinder, vor allem ihre Töchter, und trotzdem haben sie zugelassen, dass ein Mann eine Frau so behandelt?

Wow.

Das schockiert mich noch mehr als der Scheißkerl. Wann hätten sie eingegriffen? Wenn er handgreiflich geworden wäre? Wenn er mich vergewaltigt hätte? Auch wenn er gesagt hat, er würde mich nicht mit der Kneifzange anfassen, wissen wir doch alle, dass es bei Vergewaltigung nicht um Attraktivität geht, sondern um Macht. Schlicht und einfach.

Zu wissen, dass man vollkommen auf sich allein gestellt ist, sobald man in eine brenzlige Situation kommt, ist ernüchternd.

In meiner Nähe stehen zwei Männer, die mich anstarren. Und das macht mich rasend.

»Tolle Männer seid ihr! Da wird eine Frau belästigt, und ihr zwei großen Kerle zieht den Schwanz ein!« Okay, vielleicht habe ich meine Lektion noch immer nicht gelernt. Halt doch einfach mal deinen Mund!

Beide drehen sich pikiert weg. Zumindest interpretiere ich es als Pikiertheit, vielleicht ist es auch nur Ignoranz, aber ich hoffe, dass bei ihnen noch nicht Hopfen und Malz verloren ist.

Ich schiebe den Kinderwagen nach Hause und frage mich, ob die Welt ein besserer Ort sein wird, wenn Lily älter ist. Wird sie sich so ein Verhalten ebenfalls gefallen lassen müssen? Oder wird sie durch die Straßen gehen können, in dem Wissen, dass ihre Würde unantastbar ist? Ich hoffe es für sie. Ich hoffe es für mich und für alle Frauen auf der Welt.

Es ist merkwürdig. Solche Erlebnisse sorgen dafür, dass man sich plötzlich allen Frauen verbundener fühlt. Auch wenn man normalerweise nur auf sich und seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Auf einmal denke ich jedoch auch an andere. Verrückt.

Als ich die Tür meines Hauses hinter mir schließe, atme ich auf. Sicher. Hier bin ich in Sicherheit.

Ich hole Lily aus dem Wagen und schaue sie an. Sie lächelt mich an, patscht mit ihren Händchen durch die Luft. Ich drücke ihren kleinen Körper sanft an mich, küsse ihr Köpfchen mit dem weichen Flaum blonder Haare und atme den vertrauten Duft nach Babypuder ein. Langsam werde ich ruhiger. Sicher. Hier, in meinem Zuhause, bin ich sicher.

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2 Kommentare

    1. Doch, gab es die ganze Zeit, aber jetzt gerade wird das Buch umgezogen, daher kann es sein, dass es für ein paar Tage nicht da ist. Aber jetzt muss es noch da sein!

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