Leseprobe: Save me in Guerneville
Freust du dich schon auf den sechsten Teil der Davenports, Save me in Guerneville? Hier hab ich das erste Kapitel für dich!
Leseprobe Kapitel 1 aus Save me in Guerneville
Emerson
»Miss D! Kommen Sie schnell!«
Lautes Geschrei schreckt mich von den Papieren auf, die ich gerade durchgesehen habe. Interessant ist was anderes, aber es gehört zu meinem Job. Seit ich in die Anliegerwohnung des Kinder- und Jugendheims gezogen bin, wurde mir mehr und mehr Verantwortung von meinem Chef Joe übertragen, so auch, die wöchentlichen Lebensmittellieferlisten durchzugehen.
Schnell stehe ich auf, laufe in Richtung Tumult. Joshua, einer der Jüngeren, kommt mir schon entgegen, zeigt mit dem Finger aufgeregt auf eine Menschentraube. »Er bringt ihn um!«
Bei diesen Worten wird mir ganz anders. Ich will eigentlich in die andere Richtung rennen, weil ich immer wieder gelernt habe, dass man niemals zum Ärger hinrennt, nur davor weg. Aber hier kann ich das nicht und muss gegen jeden meiner Instinkte ankämpfen. Mein ganzer Körper prickelt, ist in Alarmbereitschaft, meine Hände fangen an zu zittern, weil ich nicht auf mein Bauchgefühl hören will, sondern weiterlaufe. Hin zum Chaos. Hin zur Gefahr. Hin zu einer Situation, der ich nicht gewachsen bin.
»Hey, hey!«, rufe ich, als ich mich durch die Jugendlichen kämpfe, die in einem Kreis um zwei andere stehen.
Oh, fuck.
Fliegende Fäuste, Blutstropfen, die durch die Gegend spritzen, ein Junge, der zu Boden geht, der andere greift ihm ins T-Shirt, hievt ihn hoch, bevor er mit seiner Faust immer und immer wieder zuschlägt.
Ich muss meinen ganzen Mut zusammennehmen, aber dann trete ich in den Kreis. »Hör sofort auf!« Ich greife nach seinem Arm, werde ein Stück nach vorne gerissen, aber dann sieht mich der Angreifer an.
Rocky. Ich habe die Geschichte nicht mitbekommen, aber so wurde sie mir erzählt. Mit acht Jahren stand der Junge plötzlich vor der Tür, hat behauptet, dass er sich an seinen Namen nicht erinnern könnte, aber Rocky hieße. Wie Rocky Balboa. Das wäre außerdem sein größtes Vorbild. Also Sylvester Stallone.
Und wie mir scheint, tritt er leider in seine Fußstapfen …
»Was soll das denn?«, rufe ich aus, körperlich zitternd, aber meine Stimme ist gefasst.
»Er hat angefangen, Miss D«, rechtfertigt er sich, während er seine Hand aus dem T-Shirt löst, und dafür sorgt, dass sein Kontrahent – oder muss man Opfer sagen? – hart auf dem Boden aufschlägt.
Sein Gesicht ist blutig, weswegen ich einen Augenblick brauche, um ihn zu erkennen. Silvio. Ein Jahr jünger als Rocky und erst seit einem halben Jahr hier.
»Mit dir beschäftige ich mich später.« Ich knie mich neben Silvio, der schon versucht, sich aufzurappeln. »Bleib liegen.«
»Ich … ich kann aufstehen.«
Ich betrachte sein Gesicht, sehe die aufgeplatzte Lippe, das blutende Auge. Die Nase scheint gebrochen zu sein, man kann ein Stück Knochen sehen.
Mir wird schlecht, aber das geht jetzt nicht. Stattdessen nehme ich mein Handy aus der Tasche, rufe einen Krankenwagen. Normalerweise hätte ich ihn eingepackt und wäre selbst in die Notaufnahme gefahren, aber ich habe Verantwortung für die anderen Kinder.
»Miss D? Wird er wieder gesund?«, fragt Joshua zögerlich.
Ich nicke. »Ganz sicher.«
Als ich aufschaue, sehe ich ihnen in die Augen. Vielen von ihnen steht der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Wie sehr muss sie das getriggert haben? Wo doch so viele solche Szenen selbst erlebt haben, bevor sie ihren Eltern weggenommen wurden? Oder selbst in solche Dinge verwickelt waren, bevor ein Richter sie hierhergeschickt hat?
»Bleib liegen. Gleich kommt Hilfe.« Silvio bewegt sich, versucht, sich aufzurichten. »Ganz ruhig.«
Ich lege ihm die Hand auf die Schulter, drücke kurz, bevor ich sie wieder wegnehme. Grenzen zu wahren, fällt mir nicht immer leicht – und das, obwohl ich eigentlich kein Fan von Berührungen bin –, weil ich manchmal denke, dass sie allesamt eine fette Umarmung gebrauchen könnten, aber wir haben eine Regel. Körperlicher Kontakt muss von den Jungs initiiert und sonst vermieden werden, weil man nicht weiß, was er auslösen kann. Und bei den Gewaltgeschichten, die einige schon hinter sich haben, ist es besser, vorsichtig zu sein. Aber es fällt mir schwer. Unglaublich schwer, wenn ein Kind wie Joshua mich aus blassem Gesicht und riesigen Augen ansieht, vor Angst beinahe starr.
Oder ein Jugendlicher wie Silvio, der doch nichts weiter hat als seine Würde, die ihm gerade geraubt wurde.
Dann würde ich sie am liebsten einfach mit all der Liebe überschütten, die meine Familie mir gegeben hat. Und das ist dann normalerweise auch der Moment, in dem ich realisiere, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Dinge brauchen. Denn für mich war das einfach zu viel.
Zu viel Gewese, zu viel Ge-Liebe. Am glücklichsten war ich, wenn ich mit Coco in meinem Zimmer gesessen habe und wir uns unsere gemeinsame Zukunft in strahlenden Farben ausgemalt haben. Nachdem sie weg war, hat nichts mehr so geleuchtet, aber die Momente allein in meinem Raum waren immer noch die, die mir erlaubt haben, die Batterien wieder aufzuladen, einfach ich selbst zu sein.
Daher weiß ich, auch wenn man es gut meint, muss man jeden Menschen an der Stelle abholen, an der er ist. Darf ihm nichts aufdrängen, was einem selbst gefällt, sondern muss jeden eben so akzeptieren, wie er oder sie ist.
Als der Krankenwagen kommt, bringt meine Kollegin Stella die Sanitäter zu uns. Sie war mit einer anderen Gruppe Jungs im Keller, wo wir Kicker und Tischtennisplatten haben. Heute war der Vorausscheid für unser Kickerturnier. Schließlich muss man den Kids doch was bieten.
»Was ist geschehen?«, fragt sie besorgt, während sich die Sanitäter daranmachen, Silvio zu verarzten. Sie nehmen ihn mit, weil die Nase gerichtet und die Lippe genäht werden muss.
»Das muss ich noch herausfinden.« Seufzend sehe ich mich um, aber Rocky hat sich wohlweislich verzogen. »Hast du Rocky irgendwo gesehen?«
Sie schüttelt den Kopf. »War er das?«
Ich nicke. »Leider.«
Stella ist schon lange in diesem Haus, hat alle Jungs erlebt, war dabei, als sie aus ihren Leben gerissen und hierher verpflanzt wurden. Hat sie in all ihrer Angst und Wut auf die Welt kennengelernt, ihnen geholfen, sich in einem Leben zurechtzufinden, das sie nie haben wollten.
Sie seufzt. »Mist.«
Joshua steht ein wenig verloren in unserer Nähe, immer noch voller Furcht. Ich erinnere mich, dass Gewalt in seinem Elternhaus nicht unbekannt ist. Sie hat seine Mutter in den Selbstmord und seinen Vater ins Gefängnis getrieben, während sein älterer Bruder sich einer Gang angeschlossen hat. Wir wissen nicht, was aus ihm wurde. Die Behörden haben keinen Kontakt zu ihm. Aber ein Gangleben ist auch nichts, was ich für Joshua wollen würde.
Ich hocke mich neben ihn, halte ein wenig Abstand. Sein kleiner Körper zittert. Mit zehn sollte man noch nicht den Horror gesehen haben, den er erlebt hat. Ganz sicher nicht.
»Hey, Großer. Danke, dass du mich geholt hast.«
Seine Augen starren ins Leere, seine Wangen so weiß, dass ich befürchte, er kippt um.
»Damit hast du wirklich eine Heldentat begangen.« Ich hoffe, dass Rocky ihm das Leben deswegen nicht schwermacht. Aber eigentlich vergreift er sich nicht an Jüngeren.
Sein Gesicht dreht sich zu mir. Langsam nur, kaum merklich, aber er nimmt eindeutig wahr, was ich ihm erzähle.
»Das war ganz schön furchteinflößend, nicht wahr? Mich hat das auch erschreckt. Aber du hast genau richtig reagiert.«
Er nickt stumm, ein bisschen Rosa flutet seine Wangen.
»Wie wäre es, wenn wir dir einen Kakao machen?«
Und bei diesem Wort kommt wieder Leben in seine Augen. Er liebt Kakao. Ich nicke lächelnd. »Dann komm mit.«
Gemeinsam laufen wir in die Küche und mit jedem Schritt verlässt die Starre seinen Körper immer mehr. Als er nach meiner Hand greift, weiß ich, dass er wieder okay sein wird.
Ich mache ihm einen Kakao, während die Köchin schon das Abendbrot vorbereitet. Wir setzen uns an den großen Tisch, der an der einen Wand steht, und ich sehe zu, wie er einen Kakaobart bekommt und dann endlich wieder grinst. Denn trotz aller Pein, die er erlebt hat, ist Joshua eigentlich ein fröhliches Kind. Zumindest oftmals. Und manchmal … Nun ja, das ist wahrscheinlich bei allen so. Manchmal hält die Dunkelheit Einzug. Was für eine beschissene Welt, in der zehnjährige Jungs schon diese Wahrheit kennen.
* * *
Ich finde Rocky in dem kleinen Haus im Garten, das früher einmal für Gartengeräte genutzt wurde, mittlerweile aber leer steht. Es gab mal die Idee, dass man mit den Kindern pflanzen und jäten und umgraben könnte, aber da niemand, der hier arbeitet, Lust auf Gartenarbeit hat, wurde diese aufgegeben. Deswegen wurde jemand engagiert, der sich ums Rasenmähen und so was kümmert.
Rocky sitzt in der hinteren Ecke auf dem Boden, den Kopf an die Wand gelehnt. Jetzt sieht er gar nicht mehr aus wie sein Namensvorbild, sondern wie ein sechzehnjähriger Junge, der in diesem angstmachenden Stadium zwischen Kindheit und Erwachsensein hängt. Ganz sicher kein Kind mehr, aber auch noch nicht bereit, sich dem Leben in seiner vollen Härte zu stellen.
Ich setze mich neben ihn, halte Abstand. »Hey.«
»Hey«, sagt er leise.
Ich bin mir nicht sicher, wie ich dieses Gespräch beginnen soll. Mir liegt es viel mehr, Spaß mit den Kindern zu haben, mit ihnen zu spielen und zu scherzen. Ich kann auch ernste Gespräche mit ihnen führen, aber ganz sicher nicht solche, die mich dazu zwingen, die Erwachsene zu sein, die eventuell auch Strafen aussprechen muss.
Und leider müssen manche Sachen eben auch Konsequenzen haben. Vor allem, wenn jemand so massiv zu Schaden gekommen ist wie Silvio. Das ist etwas, das wir im Team besprechen müssen. In dem Jahr, in dem ich jetzt hier bin, ist so etwas noch nicht geschehen, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.
»Was ist passiert?«, frage ich leise.
Erst scheint es, als würde er nicht antworten wollen, aber dann sagt er: »Keine Ahnung.«
»Hat er was gemacht, gesagt?«
Rocky knetet seine Hände. »Ich … keine Ahnung. Ich bin plötzlich so wütend geworden.«
»Wegen etwas, was Silvio gesagt hat?«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich … ich weiß es nicht mehr.«
»Du hast ihn ziemlich erwischt.«
Sein Körper wird steif, also hat er wohl doch eine leise Ahnung. »Hm.«
»Tut es dir leid?«
»Nein.«
Vielleicht doch mehr als nur eine leise Ahnung. »Was hat er gesagt?«
»Keine guten Dinge.«
»Über dich? Über jemand anderen?«
»Ich bin keine Petze.«
Ich nicke. »Es ist kein Petzen, wenn man die Wahrheit sagt.«
»Erwachsene verstehen das nicht.«
»Hey, wen nennst du hier Erwachsene?« Aber mein kleiner Scherz stößt nicht auf viel Gegenliebe. Mist. »Ich weiß, wir kennen uns noch nicht so lange. Willst du vielleicht mit Stella reden? Oder mit Joe?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich will gar nicht reden.«
»Wir wollen beide Seiten hören. Wenn Silvio wieder da ist, werden wir ihn auch fragen, was passiert ist.«
»Wenn er was sagt …« Seine Stimme klingt für einen Augenblick bedrohlich, bevor es wirkt, als würde alle Luft aus ihm weichen. »Egal.«
»Ich versteh, dass du nicht reden willst, aber wir müssen wissen, was passiert ist.«
»Ist doch egal! Ich habs geregelt.« Er sieht mich wütend an, und einen Moment schiebt sich das wütende Gesicht aus meiner Vergangenheit vor die Realität und mit ihm das Gefühl von Panik, das ich nur zu gut kenne. Ich schüttele den Kopf, sorge dafür, dass mein Blick wieder klar wird.
»Aber dieses Regeln ist inakzeptabel. So gehen wir mit unseren Konflikten nicht um.«
»Boah, lassen Sie mich in Ruhe!« Er springt auf.
»Hey, Rocky, ist das dein Ernst? Ich nehm mir hier Zeit, um dir zu helfen, und du willst dich auch mit mir anlegen?« Ich bemühe mich, ruhig zu bleiben, aber mein schlimmster Trigger ist Wut. Dann verfalle ich wieder in all die Muster, die ich gelernt habe, um mich so klein wie möglich zu machen, so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten.
Er boxt gegen die Wand, so fest, dass das Holz, an dem ich lehne, vibriert. Ich zucke zusammen, muss mich zwingen, mir nicht die Hände vors Gesicht zu schlagen. Ich balle die Fäuste, drücke die Nägel in die Handfläche. Nur nicht in Panik verfallen. Bloß nicht. Das würde dieser Situation nicht im Geringsten helfen. Aber es ist schwer, die Erwachsene zu sein, wenn man sich eigentlich nur verstecken will.
»Ich will nicht drüber reden!«, schreit er.
Ruhig bleiben, sage ich mir, aber ich merke, wie ich immer fahriger werde, wie ich beginne, meine Hände zu kneten, mir die Haare aus dem Gesicht streiche. Immer und immer wieder. Nicht gut. Gar nicht gut.
»Letzte Chance, Rocky. Ich lass mir dieses Verhalten so nicht gefallen. Du kannst dich anständig mit mir auseinandersetzen oder du bekommst keine Chance, mit mir zu reden.«
Er baut sich in der Tür auf. Alles, was ich denken kann, ist, er versperrt mir den Fluchtweg! Die Panik schießt in mir hoch. Ich beeile mich, aufzustehen, drücke mich gegen die Wand. Mein Herz rast, pocht mir bis in den Hals. Ich kralle mich in meine Jeans, soweit das möglich ist.
»Ich will nicht reden! Und Ihre Chancen interessieren mich nicht!«
Damit dreht er sich um, verlässt die kleine Hütte.
Und ich habe das Gefühl, dass ich wieder atmen kann. Dass mein Puls sich verlangsamt, dass ich wieder zurück in der Realität bin. Ich beuge mich vornüber, stütze die Hände auf die Knie, atme tief durch.
Scheiße.
Es war nicht mal so eine bedrohliche Situation. Er hat nichts gemacht und ich denke auch nicht, dass er irgendwas machen wollte. Aber es hat mich in Augenblicke versetzt, die zu den dunkelsten in meinem Leben gehören. Dabei war es nie so, dass ich um meine körperliche Unversehrtheit gebangt habe. Nein, so war er nicht. Er hat Terror auf eine elegantere Art und Weise verursacht, obwohl er auch wütend werden konnte. Es läuft mir immer noch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich nur daran denke. All das liegt in der Vergangenheit und ich habe in den letzten anderthalb Jahren unglaubliche Fortschritte gemacht, trotzdem sickert es immer noch in meine Wirklichkeit und meine Gegenwart ein.
»Alles okay?«, höre ich eine Stimme von der Tür.
Ich richte mich auf, nicke Joe zu. »Ja, alles okay.«
»Hast du mit Rocky gesprochen?«
Ich gehe langsam auf ihn zu, will aus dieser Hütte raus. Auch wenn Joe ganz sicher nicht angsteinflößend ist, steht er doch ebenfalls in der Tür, versperrt meinen Fluchtweg. Er tritt zur Seite. »Ich hab es zumindest versucht, aber da ist kein Durchkommen.«
Joe seufzt. »Was ein Scheiß. Das Krankenhaus hat sich gemeldet. Silvio kann in ein paar Stunden abgeholt werden.«
»Gott sei Dank.« Ich reibe mir das Gesicht. »Wie gehen wir damit um?«
»So leid es mir tut. Wir werden das anzeigen müssen. Und dann wird seine Bewährung widerrufen. Er muss in den Jugendknast. Ist schade für ihn, weil er sich gut gemacht hat, aber so ein Verhalten können wir nicht dulden.«
Langsam gehen wir zurück zum Haus. »Aber wäre das nicht kontraproduktiv? Ich mein, er hat doch Fortschritte gemacht, sagst du ja selbst. Damit würde man alles wieder zunichte machen.«
»Klar, aber er kann nicht einfach wahllos Menschen verprügeln. So ein Verhalten muss Konsequenzen haben.«
Ich nicke. »Es widerstrebt mir nur, dass wir dadurch sein Leben auf unebene Bahnen lenken.«
»So darfst du nicht denken. Nicht wir tun das. Das hat er sich selbst zuzuschreiben.«
»Stimmt schon.« Ich seufze. »Ach, Mann. Ich wünschte, das alles wäre nicht passiert.«
»Glaub mir. Ich auch.«
»Willst du noch mal mit ihm reden? Und wir sollten versuchen, Andrew für morgen zu holen.«
»Ich kümmer mich drum. Um beides.« Er nickt in Richtung Haupteingang. »Da ist übrigens Besuch für dich.«
»Besuch für mich?«, frage ich verwirrt. Wer sollte mich denn besuchen?
Aber neugierig, wie ich bin, schaue ich nach. Als ich um die Ecke biege, sehe ich eine kleine Frau mit langen blonden Haaren und fange an zu quietschen.
Sie dreht sich um, sieht mich und rennt lachend auf mich zu. Sie schlingt die Arme um meinen Hals und meine wickeln sich um sie.
»O mein Gott!«, das ist alles, was ich herausbekomme, als ich nach einem halben Jahr endlich meine allerbeste Freundin wieder im Arm halte. Coco. Conley McVey. »Du bist da!« Und erst jetzt merke ich, wie sehr ich sie vermisst habe. Wie sehr mein Alltag besser ist, wenn sie Teil von diesem ist.
Wir haben das letzte halbe Jahr, das sie mit Reisen und Sex verbracht hat, mindestens jeden zweiten Tag gesprochen, meist sogar jeden, aber es ist etwas anderes, jemanden nur auf dem Display eines Handys zu sehen oder so lebensgroß.
»Ich hab dich so vermisst!« Sie drückt ihre Lippen gegen meine Wange, muss sich dafür ein wenig strecken, weil ich die Davenport-Gene habe. Groß.
»Ich dich auch«, murmele ich gegen ihren Kopf. »Ich kann es nicht fassen, dass du hier bist.«
Sie löst sich, greift nach meinen Händen. »Ein halbes Jahr geht echt schnell vorbei, wenn man Spaß hat. Na ja, und es war doch klar, dass ich zu meiner besten Freundin fahre, bevor es zurück in die Kleinstadt geht.«
»Du gehst echt dahin zurück.«
Sie nickt grinsend. »Wer hätte das gedacht, oder? Ich jedenfalls nicht.«
»Wo ist Reid?«
»Im Hotel.«
»Wollte er mich nicht sehen?«
»Doch, natürlich! Aber ich hab mein Vorrecht angemeldet.« Sie lacht auf. »Bei so was kann man Jungs doch nicht gebrauchen.«
»Ganz sicher nicht.« Ich ziehe sie noch einmal an mich. »Boah, wie schön.«
»Find ich auch.« Sie drückt mich. »Wann hast du Schluss? Lass uns was machen.«
»Und was?«
»Also, ich denke, wir haben zwei Möglichkeiten. Entweder lagern wir in deinem Bett oder im Hotel. Hotel wäre super, weil wir dann alles beim Room Service bestellen können, was es gibt.«
»Aber da ist Reid.«
»Wir nehmen ein anderes Zimmer.«
»Wirklich?«
»Hab ich schon mit ihm klargemacht. Wobei seine Bedingung ist, dass er dich zumindest einmal sehen will.« Sie lächelt.
Mein Blick fliegt über meine beste Freundin, saugt alles in sich auf, was mir das letzte halbe Jahr verborgen blieb. Sie sieht toll aus. Verliebtsein steht ihr sehr gut. »Na gut, dann gehen wir ins Hotel. Ich brauch noch etwa eine Stunde.«
»Super. Soll ich warten oder kommst du dann dahin?«
»Ich komm dahin.«
Sie umarmt mich erneut. »Ich bin so froh, dich wiederzusehen. Das war einfach viel zu lang.«
»Find ich auch.« Ich schaue ihr zu, als sie das Gebäude verlässt. Viel zu lang und dabei war es nur ein halbes Jahr. Nicht die Ewigkeit zwischen ihrem Wegzug aus Guerneville und meinem Auftauchen hier in Denver. Das war lang.
Aber selbst das halbe Jahr will ich nie wieder erleben.
Ende der Leseprobe zu Teil 6 der Davenports!
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