Leseprobe: Lipstick & Kilts – Lennox

Inspiration: Cover von Lipstick & Kilts Band 5 mit Deko auf weißen Hintergrund

Ich starre auf die Karte in meiner Hand. Sie ist aus dickem Papier, edel, mit Prägung und Goldfolie. Darauf steht:

Mr. und Mrs. Stewart laden zur Vermählung ihrer Tochter Alba mit Robert Drummond, Earl of Airlie, ein.

Ein wenig fassungslos starre ich die Einladung an. So lange habe ich nichts von meiner Familie gehört – hören wollen –, und jetzt lädt Alba mich zu ihrer Hochzeit ein? Ganz sicher nicht.

Ich will die Karte schon zerknüllen, als ich sehe, dass auf der Rückseite noch etwas geschrieben steht:

Versau das deiner Schwester nicht. Was soll ihre neue Familie denken, wenn ihr Bruder nicht dabei ist?

Die unverkennbare Schrift meiner Mutter. Immer noch dieselben winzigen, krakeligen Buchstaben. Grafologen hätten wohl ein Fest, wenn sie sie analysieren dürften. Obwohl nie ein echter Zusammenhang zwischen Handschrift und Charakter bewiesen wurde, brauche ich nur einen Blick auf ihre zu werfen und weiß, dass sie grausam und rachsüchtig ist.

Wut steigt in mir auf.

Wie kann sie es wagen?

Wie können sie alle es wagen, mich wieder in ihre beschissene Familie hineinzuzerren? Als hätte ich ein Interesse daran, auf Albas Hochzeit zu gehen. Das können sie nicht wirklich annehmen.

Ich zerknülle die Karte, schaue in den Briefumschlag, sehe noch ein Stück Papier. Ah, RSVP. Darauf können sie lange warten. Ich werde ganz sicher nicht antworten. Und überhaupt: RSVP? Ehrlich? Halten sie sich jetzt für was Besseres, weil ihre Tochter einen Earl heiratet? Vielleicht sollte ihnen mal jemand sagen, dass sie dadurch nicht selbst blaublütig werden.

Nein, sie werden weiterhin dieselben Kleingeister bleiben, die sie schon immer waren.

Wie Alba es geschafft hat, sich einen Earl zu angeln, ist mir zwar schleierhaft, aber auch scheißegal. Ein Titel wird ihren Charakter ganz sicher nicht angenehmer machen.

Sie wird wahrscheinlich noch unausstehlicher, weil sie dann ja eine Lady ist. Oh, ich hätte gute Lust, diesem Earl of Airlie zu schreiben, um ihm mitzuteilen, in was für eine kaputte, toxische Familie er da einheiratet. Das würde ihr recht geschehen, wenn ich ihre Hochzeit zerstören würde.

Gute Idee.

Wie finde ich seine E-Mail-Adresse heraus?

Aber noch bevor ich mein Handy zücken kann, klingelt da so ein kleines Glöckchen in meinem Hinterkopf. Ich seufze, gehe ans Gefrierfach, hole die Flasche Wodka heraus, die ich hier für Notfälle gelagert habe, nehme meinen Schlüssel und laufe die drei Blocks, bis ich an einem kleinen backsteinfarbenen Haus ankomme, in dessen erstem Stock Licht brennt.

Ich klingele und eile die Stufen nach oben.

In der offenen Tür steht meine beste Freundin Elsie, die mich überrascht ansieht. Ich halte die Flasche hoch, und sie tritt einen Schritt zur Seite. Mit einem kleinen Kuss auf ihre Wange trete ich ein, gehe in die Küche, hole zwei Gläser aus dem Schrank und gieße uns großzügig ein. Dann reiche ich ihr eins.

»Was betrauern wir?«, fragt sie, bevor wir uns zuprosten und dann einen Schluck nehmen.

Ich schüttele den Kopf, noch nicht in der Lage, irgendwelche Worte zu finden. Elsie nickt nur. Das mag ich an ihr. Sie zwingt mir nichts auf, sondern lässt mich meinen eigenen Rhythmus finden, ohne aufdringlich zu sein.

Ich nehme die Flasche, gehe ins Wohnzimmer und lasse mich auf die großzügige Couch fallen. Wie immer in die Mitte. Aber hier ist so viel Platz, dass sie sich noch an beiden Seiten ausstrecken kann. Ich nehme ihr also nichts weg.

Aber sie setzt sich nicht an den Rand, sondern neben mich. So nah, dass ich spüre, wie sich die Polster bewegen, wenn sie es tut. So weit weg, dass wir uns gut unterhalten können, wenn wir die Köpfe zueinander drehen. Ich trinke noch einen Schluck, lehne mich an, schließe die Augen.

Wut ist eine Emotion, die ich mir nur selten erlaube. Denn sie bringt einen nicht weiter. Wenn man zornig ist, findet man keine Lösungen, man sieht nicht, wie die Dinge zusammenhängen, wo man ansetzen kann. Nein, stattdessen verbraucht man unglaublich viel Energie auf etwas, das keinen Nutzen hat.

Und wenn dann alles abgeflaut ist, fühlt man sich einfach nur leer.

Das ist ganz sicher was, wobei ich keine Hilfe brauche. Leer fühle ich mich an den meisten Tagen ganz von allein.

Ich drehe meinen Kopf zu Elsie, die mich ansieht. »Ich hab ’ne Einladung zu Albas Hochzeit bekommen.«

»Okay«, sagt sie langsam. Sie weiß nicht alles. Meine beste Freundin kennt die groben Züge, aber keine Details. Niemand kennt sie. Nicht einmal Arran.

Damals, als wir so eng befreundet waren, dachte ich, dass ein Mann sich keine Blöße geben darf, hatte Angst, dass ich ein Weichei sein könnte, wenn ich über so was rede. Danach ist mein bester Kumpel nach London gegangen, hat zehn Jahre nur in der Peripherie meines Lebens eine Rolle gespielt. Niemals hätte ich ihm davon erzählt. Ganz sicher nicht.

Und Elsie? Sie war immer für mich da. In ihrer unaufdringlichen, ruhigen Art hat sie einen Teil der Last übernommen, ohne überhaupt zu wissen, dass sie es getan hat.

»Alba ist ‘ne Bitch.«

Ein leises Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. »Das hast du schon mehrmals angedeutet.«

Ich trinke einen Schluck, bevor ich mich anders hinsetze, so, dass ich sie besser ansehen kann. »Meine Kindheit war nicht schön. Sie war …« Und hier fehlen mir die Worte. Das Kind von damals hatte keine Worte für das, was es erlebt hat, und der Mann, der ich jetzt bin, hat so viel verdrängt, dass er nicht weiß, wie er dieses Gefühl in sich beschreiben soll. »… grausam.«

Elsies Gesicht wird weich. Sie legt ihre Hand auf meine, drückt meine Finger. Anfangs mochte ich es nicht wirklich, wenn sie mich angefasst hat, aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. Sie ist eben taktil. Bis ich sie kennengelernt habe, wusste ich nicht mal, dass man jemanden auf freundschaftliche Weise berühren kann. Klar, beim Sex fasst man einander an, man umarmt auch mal einen Kumpel, aber bei ihr ist es anders. Sie kommuniziert über Berührungen. Und ich liebe es.

Ich seufze, trinke einen weiteren Schluck. »Und Alba … Nicht, dass Iona nicht ebenso schlimm gewesen wäre. Vielleicht ist es unfair, aber da sie die Ältere ist … Keine Ahnung. Irgendwie denkt man da doch, dass sie die Vernünftigere sein muss.«

»Ein Trugschluss, nehme ich an?«, fragt sie sanft.

Nickend fahre ich mit dem Finger über den Cordstoff ihrer Couch. »Es war einfach nicht schön.«

»Und deine Eltern?«

Ein Schnauben reicht aus, um zu sagen, was ich von ihnen halte, aber dennoch führe ich aus: »Dad war nie da. Wahrscheinlich hat er es auch nicht ausgehalten. Und Mum? Nun ja, sie hat weggeguckt. Nicht, dass sie nicht auch ihre eigenen Fehler hatte.«

»Das tut mir leid.«

Ich schenke ihr ein Lächeln. »Danke, dass du da bist.«

»Immer.«

Und das weiß ich. Ich drücke ihr Knie, will ihr in ihrer Sprache zeigen, wie dankbar ich bin, dass sie immer ein offenes Ohr für mich hat. Normalerweise berühre ich sie nicht so oft von mir aus. Vielleicht liegt es daran, dass sie einen Partner hatte, als wir uns kennengelernt haben, und ich keinen Verdacht erregen wollte. Oder vielleicht ist es auch einfach so, dass es eine Grenze ist. Trotz aller Vertrautheit halte ich sie ein wenig auf Abstand. Warum auch immer.

Na ja, im Endeffekt halte ich Frauen generell auf Distanz.

Keine Ahnung. Man muss solche Dinge auch nicht überanalysieren. Davon werden sie ganz gewiss nicht besser.

»Es hat mich wütend gemacht.«

Sie nickt. »Versteh ich.«

»Vor allem, weil Mum – nicht, dass sie diese Bezeichnung verdient hätte – noch eine Nachricht auf die Rückseite geschrieben hat. Dass ich es für Alba bloß nicht versauen soll. Und was soll denn sonst ihre neue Familie denken?«

»Klingt ziemlich unschön.«

Ich nicke. »Sie heiratet wohl einen Earl.«

Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Verstehe. Deswegen soll es so aussehen, als wärt ihr eine intakte Familie.«

»Ganz genau. Aber das stimmt ja nicht. Ich hab seit hundert Jahren nicht mehr mit ihnen gesprochen.« Elsie hat sie nicht mal kennengelernt, und das, obwohl wir schon acht Jahre befreundet sind.

»Und das kam jetzt einfach so aus dem Nichts? Sonst stand nichts dabei?«

Ich schüttele den Kopf. »In ihrer handschriftlichen Nachricht stand weder ein Hallo noch sonst was.«

»Und was willst du machen? Hingehen?«

Mein Lachen klingt ziemlich bitter. »Auf gar keinen Fall. Das können sie echt vergessen.«

»Hatte auch nichts anderes angenommen.«

»Wie können sie das denn glauben? Haben sie tatsächlich angenommen, dass ich nach all den Jahren mit einem Lächeln vorbeikomm und sag: Schwamm drüber? So dumm können sie doch nicht sein.«

»Du bist selten wütend«, sagt sie leise. »Aber jetzt bist du es.«

Seufzend lehne ich den Kopf an. »Bin ich. Und es bringt überhaupt nichts.«

»Vielleicht brauchst du diese Chance zum Dampfablassen.«

»Mag sein, aber sonst? Es nützt nichts, sich über so was aufzuregen.«

»Gefühle sind nicht immer logisch.«

»Das ist wohl wahr.« Ich lächele sie an. »Was würde ich nur ohne dich tun?«

Elsie

Es fällt mir schwer, mir seine Worte anzuhören. Nicht, weil ich nicht will, dass er mit seinen Sorgen zu mir kommt. Das will ich. Was ich aber nicht mag, ist, dass er Kummer hat. Seit er vor acht Jahren in mein Leben getreten ist, habe ich so eine Art sechsten Sinn für ihn. Vielleicht liegt es nur an meiner empathischen Persönlichkeit, aber ich denke, dass da mehr ist.

Ich versuche, ihm so viel Geborgenheit wie möglich zu geben – immerhin bin ich ein Kuschler –, aber gleichzeitig will ich ihm auch nicht auf die Pelle rücken, ihn nicht erdrücken. Wenn er mich, so wie jetzt, von allein berührt, steigt Wärme in mir auf, weil ich weiß, dass er sich bei mir wohlfühlt.

»Was würde ich nur ohne dich tun?« Diese Frage stellt er öfter, ohne zu wissen, welchen Tumult sie in meinem Inneren auslöst.

Sie suggeriert, dass ich ihm wichtig bin, dass er nicht ohne mich leben kann. Und das lässt warme Gefühle in mir aufsteigen. Aber er meint es rein platonisch, obwohl mein dummes Herz es immer anders auffassen will. Immer wieder hat es die Hoffnung, dass er jetzt – jetzt endlich! – anders für mich empfindet. Und jedes Mal wird sie enttäuscht.

Denn das ist die Wahrheit: Ich bin seit acht Jahren in Lennox Stewart verliebt. Und er hat keine Ahnung.

Weil ich nicht weiß, was ich darauf antworten soll, nicke ich nur lächelnd. Am liebsten würde ich ihn fragen, was in seiner Kindheit passiert ist, dass er so ein schlechtes Verhältnis zu seiner Familie hat. Wobei das noch eine Untertreibung zu sein scheint, wenn er seine Schwester als Bitch bezeichnet.

Aber ich habe gelernt, dass Lennox von allein reden muss. Wenn man ihn fragt, blockt er ab. Wenn man ihm zu nahekommt, weicht er aus. Wenn er das Gefühl hat, man hat Interesse, dann sucht er Distanz.

Zumindest bei Frauen.

Ich habe ihn schon mehrmals mit seinen männlichen Freunden erlebt und da ist es nicht so. Aber diese Gelassenheit, die er bei ihnen an den Tag legt, die hat er mit mir nicht. Und auch mit anderen Frauen nicht.

Wobei das nur meine Vermutung ist. Er hat keine engeren Beziehungen zu Frauen. Da bin nur ich. Und seit einiger Zeit die Partnerinnen seiner Freunde. Aber auch sie hält er auf Abstand. Was vielleicht nur mir auffällt, weil ich so viel Zeit darauf verschwende, ihn zu analysieren. Bin ich besessen? Manchmal stelle ich mir diese Frage.

Aber dann denke ich, dass ich eben verliebt bin. Auch wenn er absolut keine Ahnung hat.

Lennox schenkt uns beiden noch einen Schluck ein, sieht an die Decke. »Fändest du es kindisch, wenn ich ihnen die Einladung in winzige Fetzen zerrissen zurückschicken würde? Ich mein, sie haben schließlich um Antwort gebeten.«

Ich lächele leicht, obwohl ich die Idee eigentlich ziemlich lustig finde. Aber ich glaube nicht, dass er das gerade braucht. »Wenn du dich danach fühlst, dann mach es. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es dir damit besser geht.«

Er seufzt. »Ich auch nicht. Das wäre eine kurze Befriedigung, aber gleichzeitig ein Einknicken. Immerhin haben sie, seit ich mit siebzehn von zu Hause ausgezogen bin, keinerlei Reaktion mehr von mir bekommen. Diese Erfolgssträhne würde ich brechen.«

»Musst du wissen, was dir an der Stelle wichtiger ist.«

Er schüttelt den Kopf. »Ich schmeiß die Einladung weg.« Er streckt sich, sein Pulli rutscht nach oben und ich erhasche einen Blick auf seinen muskulösen Bauch. Die Jeans hängt, wie immer, gefährlich tief.

Ich schlucke, aber bevor ich mich blamieren kann, steht er auf.

»Ich muss morgen früh raus, aber vielleicht gehen wir Mittagessen?«

Ich nicke. »Gern. Sollen wir uns bei dem Inder treffen?«

Er schüttelt den Kopf. »Ich hab mehr Lust auf Arabisch.«

»Alles klar. Dann treffen wir uns um halb eins da?«

»Bis morgen.« Er beugt sich zu mir, drückt mir einen Kuss auf die Wange, bevor ich ihm zur Wohnungstür folge. Meine Finger zucken, aber ich muss noch warten, bis er im Hausflur verschwunden ist.

Aber als es so weit ist, hebe ich die Hand, berühre meine Wange und versuche, das Gefühl dieses Kusses einzufangen. Erbärmlich. Aber so richtig.

Seufzend gehe ich zurück ins Wohnzimmer, greife nach meinem Handy und rufe die eine Person an, der ich erzählt habe, dass ich in meinen besten Freund verliebt bin.

»Was hat er schon wieder getan?«, fragt Carrie, als sie den Anruf entgegennimmt.

Ich seufze. »Es ist mehr so, was ich tue.«

»Und das ist?«

»Hoffnung haben, obwohl keine mehr da sein sollte.«

»Ach, Süße. Das tut mir einfach so leid.«

»Ich weiß. Kann man nichts machen.«

»Du könntest schon«, sagt sie zögernd.

Ich schüttele den Kopf, obwohl sie es nicht sehen kann. »Aber dann säße ich irgendwo in London, oder wer weiß wo, und würde trotzdem immer nur an ihn denken. Nein, da ist es hier besser, wo ich wenigstens ein Supportsystem hab.«

»Aww, danke, dass du mich als System bezeichnest.«

Ich lache auf. »Hey, ich meinte nicht nur dich, wobei du natürlich recht hast.«

»Hab ich immer«, scherzt sie.

»Vor allem hast du so viel Selbstbewusstsein, da könntest du mir eine Scheibe von abgeben.«

Ich sehe vor meinem geistigen Auge, wie sie mit den Schultern zuckt. »Das kann man lernen. Zwar ist es leichter, wenn man es in die Wiege gelegt bekommt, aber man kann dran arbeiten.«

»Ich weiß.«

»Mit einem Therapeuten darüber zu sprechen, ist auf jeden Fall ein guter Anfang.«

»Vielleicht sollte ich das mal machen«, sage ich, wie jedes Mal, wenn sie die Sprache auf dieses Thema bringt. Mir ist bewusst, dass es toxisch ist, jemanden seit acht Jahren still zu lieben, ohne sich jemals zu offenbaren.

Aber ich weiß eben, dass Lennox nicht so für mich empfindet, und es ist mir wichtiger, ihn in meinem Leben zu haben, als alles andere. Allerdings weiß ich nicht, wie ich über ihn hinwegkommen soll, wenn er hier abends auftaucht, megaheiß aussieht und sich bei mir auskotzt.

»Mein Reden«, kommentiert Carrie. »Rechtfertigt er die Hoffnung denn irgendwie?«

»Nein«, gebe ich zu, knibbele an einem Faden, der aus dem Saum meines Rollkragenpullovers herausguckt. »Und ich weiß es auch, weiß, dass es niemals zu mehr kommt.«

»Okay, Süße, aber – und ich sag das mit aller Liebe, die ich für dich empfinde – wenn du es weißt, wieso fällt es dir so schwer, dich von ihm zu lösen?«

Ich schließe die Augen, versuche, das Brennen zu unterdrücken. »Weil ich ein Trottel bin.«

»Darf ich dir was sagen, ohne dass du beleidigt bist?«

»Kann ich nicht versprechen.«

Sie lacht leise auf, bevor sie sagt: »Kann es sei, dass du denkst, das ist alles, was du verdienst, weil du noch nie deinen Wert erkannt hast? Du musst nicht antworten oder so, aber vielleicht ist es ja eine Frage, die dir eventuell einen Denkanstoß gibt.«

Das ist wie ein Schlag in die Magengrube, und es fühlt sich so verdammt wahr an, dass mir der Atem wegbleibt. Ich bleibe stumm, muss verarbeiten, was sie mir da offenbart hat.

»Elsie?«

»Ich bin noch da.«

»Oh, gut, ich … ich will nur, dass du weißt, dass du die Einzige bist, die das so sieht, okay? Jeder andere Mensch, egal, ob er dich drei Sekunden oder zehn Jahre kennt, weiß, wie verdammt glücklich er sich schätzen kann, dich in seinem Leben zu haben. Du bist einer von diesen Menschen, die alle um sich herum bezaubern. Ich will nur, dass du das weißt, okay?«

»Okay.«

»Aber du glaubst es nicht«, stellt sie fest.

»Ich wünschte, ich könnte.«

»Das macht nichts. Solange du es nicht glauben kannst, glaub ich es für uns beide.«

»Danke.« Ungeduldig wische ich die Träne weg, die sich über meine Wange stiehlt. »Aber ganz ehrlich, Carrie, du bist die Bezaubernde.«

»Nein, ich bin diejenige, die Lennox seinen verschissenen Arsch aufreißt, wenn er dir noch mal wehtut. Die bin ich.«

»Er kann ja nichts dafür.«

Sie seufzt. »Mit über dreißig noch immer seinen Eltern alles anzukreiden, ist auch ziemlich armselig.«

»Aber er scheint echt keine tolle Kindheit gehabt zu haben.«

»Das mag sein. Aber wenn man erwachsen ist, kann man seine eigenen Entscheidungen treffen. Unter anderem die, in Therapie zu gehen, um mit seinem Scheiß fertigzuwerden. Diese Option hat jeder.«

»Ja, klar, aber nicht jeder kann drüber reden.«

»Elsie, tu mir einen Gefallen.«

»Welchen?«

»Hör auf, ihn zu verteidigen. Nicht vor mir, okay? Tu das vor allen anderen, aber nicht vor mir. Du bist meine Freundin, und deswegen bin ich auch nur an deinem Wohlergehen interessiert. Er ist mir scheißegal.«

»Sag das nicht.«

»Es ist aber wahr. Ich bin die eine Person, die hundertprozentig in deiner Ecke steht und zwar für immer.«

»Ich hab dich nicht verdient.«

»O Gott, Elsie! Verdammt noch mal! Wann geht es denn in deinen Schädel, dass du das hast? Du bist die bezaubernde Elsie, weswegen du alles Gute dieser Welt verdient hast.«

»Kein Grund, mich anzumeckern«, erwidere ich, weil mir nichts Besseres einfällt. Super Taktik, den Ton anzumerken, statt mich auf das Gesagte zu konzentrieren.

»Doch, weil du es ja nicht begreifen willst. Du bist großartig.«

»Können wir über was anderes reden?«

»Meinetwegen, aber ich werd nicht damit aufhören.«

Erleichtert lächele ich. »Du bist wie ein Terrier mit einem Knochen.«

»Allerdings. Vergiss das nicht.« Sie lacht auf. »Wenn ich Devon von dem Vergleich erzähle, wird er dir zustimmen.«

»Jeder, der dich kennt, wird das.«

»Auch wieder wahr.« Sie seufzt, bevor sie ruft: »Ich zähle bis drei. Wenn ihr dann nicht im Bett seid … Eins, zwei …« Ich höre das Trappeln kleiner Füße. »Ich weiß nicht, was ich mache, wenn sie merken, dass nach drei nichts folgt.«

Ich lache auf. »Du glaubst nicht, wie froh ich bin, dass du auch nicht immer alles auf die Kette kriegst.«

»Hey, das ist das Geheimnis des Erwachsenseins. Man tut neunzig Prozent der Zeit nur so, als wüsste man, was man da eigentlich macht.« Sie seufzt. »Ich muss Schluss machen. Ich hör die Monster kichern, was bedeutet, dass sie nicht in ihren eigenen Betten liegen. Ruf mich jederzeit an. Wenn du reden willst, wenn du dich auskotzen willst, wenn ich dir helfen soll, seine Leiche wegzuschaffen.«

»Das ist ein Scherz, oder?«

»Kann sein, kann nicht sein. Gute Nacht.«

»Ich hoffe für dich, dass es ein Scherz ist! Gute Nacht.«

»Wer weiß?«

Bevor ich noch was sagen kann, legt sie mit einem teuflischen Lachen auf. Ich weiß, dass Carrie Lennox nicht leiden kann. Der Grund ist natürlich, dass ich leide. Nicht unter ihm, aber darunter, dass ich Gefühle für ihn habe, die er nicht erwidert. Ist auch scheiße. Aber kann er ja nichts für. Als beste Freundin muss sie da vielleicht nicht fair sein. Und eigentlich ist es gut zu wissen, dass sie so sehr auf meiner Seite ist …

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